Frankfurt

Mit dem Koffer in die Freiheit

Zeugnis der Exilgeschichte und eines von 250 Ausstellungsexponaten: der Koffer des Schriftstellers Walter Meckauer (1889–1966) Foto: Stephan Jockel

Die unscheinbare Abreiß-Fahrkarte mit dem Aufdruck »Köln – Aachen 23.4.1933« verweist auf eine Geschichte, in der es um Leben und Tod ging. Auf der Rückseite findet sich die handschriftliche Notiz des jüdischen Fotografen Walter Zadek (1900–1992): »Die Fahrkarte in die Freiheit. Absichtlich zur Täuschung Rückfahrt gekauft. Von Aachen mit Taxi ins Niemandsland.« Zadek floh über die grüne Grenze in die Niederlande und weiter nach Palästina.

Das Miniaturexponat ist eines von rund 250 Originalen aus Nachlässen von Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern, die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Deutschland verlassen mussten und die ab Freitag in der neuen Dauerausstellung Exil. Erfahrung und Zeugnis des Deutschen Exilarchivs Frankfurt besichtigt werden können. Die Schau ist ebenso vielschichtig wie bewegend; sie veranschaulicht den Alltag, die Situation der Familie, den beruflichen Auf- oder Abstieg, die eigene Sprache und fremde Sprachen, Widerstand gegen den Nationalsozialismus und schließlich die Frage nach Rückkehr oder Bleiben.

Flucht Auf 400 Quadratmetern in der Dauerausstellung und daneben in der gleich großen Wechselausstellung werden Notizzettel, Fotos und Objekte wie zum Beispiel die originalen Fluchtkoffer der jeweiligen Künstler gezeigt. Dazu gehört etwa ein handschriftlicher Brief des Schriftstellers Franz Werfel (1890–1945) an seine Eltern von Bord eines Schiffes kurz vor der Ankunft in New York. Er berichtet über die geglückte Flucht und hat den Satz unterstrichen: »Weitaus das Allerschlimmste dabei aber war, Euch zurücklassen zu müssen.«

Zurücklassen mussten die Exilanten nicht nur die Liebsten, sondern alles, was ihre Welt bislang ausmachte. Von der jüdischen Rechtsanwältin Clementine Zernik (1905–1996), die 1938 aus Wien in die USA floh, ist ein Holzkästchen zu sehen. Darin hat sie Erinnerungsstücke gesammelt, Postkarten, Fotos, Fahrkarten, Eintrittskarten zu den Salzburger Festspielen, die sie mit ins Exil nahm – materiell wertlos, aber die Vergewisserung ihres bisherigen Lebens.

Wie sehr die Vertreibung Emigranten verbitterte, macht ein Brief Albert Einsteins an seinen früheren deutschen Verleger von 1950 deutlich: Der Physiker verweigerte dem Verleger die Herausgabe seiner Bücher in Deutschland.

Kindheit Die Ausstellung bietet neben den chronologischen Kapiteln »Auf der Flucht«, »Im Exil« und »Nach dem Exil« acht biografische Einstiege. Eine Persönlichkeit davon ist die Schriftstellerin Stefanie Zweig (1932–2014), die in Erinnerung an ihre Kindheit im Exil in Kenia den Bestseller Nirgendwo in Afrika schrieb. Ein unscheinbares graues Säckchen, etwa zwei mal vier Zentimeter, liegt unter Glas: »Erde vom Grab meiner lieben Mutter«, hatte Stefanies Vater Walter 1938, im Jahr der Flucht aus Oberschlesien, mit Abschiedsschmerz geschrieben.

Fotobücher von Stefanie Zweig geben einen Eindruck vom fremden Land der Zuflucht und vom ersten Winter zurück in Deutschland 1947. Die alte Heimat war für immer verloren. Stefanies jüdische Eltern kehrten nicht nach Leobschütz zurück, das polnisch geworden war, sondern landeten in Frankfurt. Sie selbst musste ihre Heimat Kenia verlassen – und fand sich in Deutschland wieder, in der Fremde, wie sie 2012 in ihrer Autobiografie Nirgendwo war Heimat: Mein Leben auf zwei Kontinenten schrieb.

Deutsches Exilarchiv 1933–1945 (Frankfurt am Main): »Exil. Erfahrung und Zeugnis«. Ab 9. März

Genetik

Liegt es in der Familie?

Eierstockkrebs ist schwer zu erkennen. Warum ein Blick auf den Stammbaum nützen kann

von Nicole Dreyfus  23.11.2025

Hebraica

»Was für ein Buchschatz!«

Stefan Wimmer über die Münchner Handschrift des Babylonischen Talmuds als UNESCO-Weltkulturerbe

von Stefan Wimmer  23.11.2025

Aufgegabelt

Linsenpfannkuchen von König David

Rezept der Woche

von Jalil Dabit, Oz Ben David  22.11.2025

TV-Tipp

TV-Premiere: So entstand Claude Lanzmanns epochaler Film »Shoah«

Eine sehenswerte Arte-Dokumentation erinnert an die bedrückenden Dreharbeiten zu Claude Lanzmanns Holocaust-Film, der vor 40 Jahren in die Kinos kam

von Manfred Riepe  21.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  21.11.2025

Gespräch

»Der Überlebenskampf dauert an«

Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch, Israels Krieg gegen den palästinensischen Terror und die verzerrte Nahost-Berichterstattung in den deutschen Medien

von Detlef David Kauschke  21.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  21.11.2025

TV-Kritik

Allzu glatt

»Denken ist gefährlich«, so heißt eine neue Doku über Hannah Arendt auf Deutsch. Aber Fernsehen, könnte man ergänzen, macht es bequem - zu bequem. Der Film erklärt mehr als dass er zu begeistern vermag

von Ulrich Kriest  21.11.2025