Interview

»Mir ging es um die Fakten«

Dagmar Strauss Yaari über 160 Briefe ihrer Eltern aus den 30er-Jahren und ein Buchprojekt

von Ayala Goldmann  17.08.2020 13:12 Uhr

Dagmar Strauss Yaari lebt seit Anfang der 90er-Jahre in Jerusalem. Foto: privat

Dagmar Strauss Yaari über 160 Briefe ihrer Eltern aus den 30er-Jahren und ein Buchprojekt

von Ayala Goldmann  17.08.2020 13:12 Uhr

Frau Strauss Yaari, Ihr Buch ist ein Lebensprojekt: Die Briefe Ihrer Eltern Irene und Gottfried Strauss wurden 1996 in der Wohnung Ihrer Mutter in Melbourne gefunden. Was haben diese handschriftlichen, deutschsprachigen Briefe aus den 30er-Jahren für Sie bedeutet?
Ich bin ein Kind von Überlebenden, aber bis ich die Briefe gelesen hatte, war mir nicht klar, wie stark mich die Vergangenheit meiner Eltern geprägt hat. 1996, nachdem meine Mutter in eine Pflegeeinrichtung kam, hat meine Nichte ihre Wohnung ausgeräumt. In einer Briefmappe aus Leder stieß sie auf 160 Briefe. Sie gab die Briefe meiner älteren Schwester, und meine Schwester sagte: »Du bist diejenige in unserer Familie, die darüber schreiben sollte.« Ich war sofort einverstanden.

War Ihr Deutsch gut genug, um die Briefe zu lesen?
Ich bin 1944 in Shanghai geboren und 1946 mit meinen Eltern nach Australien ausgewandert. Meine Eltern haben Deutsch mit uns gesprochen. Aber um die Briefe wirklich zu verstehen, habe ich sie ins Englische übersetzen lassen. Die Briefe erzählen von einer Liebesgeschichte in schweren Zeiten. Mein Vater wurde kurz nach der Hochzeit meiner Eltern im Dezember 1935 in Mülheim an der Ruhr verhaftet, war im Gefängnis in Halle eingesperrt, wurde 1937 wegen angeblichen Hochverrats verurteilt und dann in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald interniert. Meine Mutter hielt ihm drei Jahre lang die Treue, bis beide Anfang 1939 nach Shanghai emigrieren konnten.

Sie wussten schon als Kind, dass Ihre Eltern eine schwierige Vergangenheit hatten. Haben die Briefe Ihnen geholfen, sie besser zu verstehen?
Meine Eltern waren von ihren Erfahrungen schwer beeinträchtigt, dennoch haben sie niemals darüber gesprochen. Die Briefe waren für mich faszinierend, aber in mancher Hinsicht warfen sie mehr Fragen als Antworten auf. Also habe ich mich dafür entschieden, in die Tiefe zu recherchieren. Ich habe mich an Yad Vashem gewandt, und ein Freund von mir sagte: »Wende dich an die Recherchegruppe ›Facts & Files‹ in Berlin. Sie können für dich im Bundesarchiv nachschauen.« Mein Deutsch hätte dafür nicht ausgereicht. Das habe ich getan, und als ich nach Berlin reiste, hat sich dort die ganze Geschichte vor meinen Augen entfaltet, vollständiger als durch die Briefe. Meinem Vater wurden in seinem Prozess politische Motive untergeschoben, die er nicht hatte. Und nachdem ich alle Dokumente eingesehen hatte, konnte ich nicht nur verstehen, was geschehen war, sondern auch, warum meine Eltern so waren, wie ich sie erlebt habe.

Wie haben Sie Ihre Eltern erlebt?
Mein Vater war ein gebrochener Mann. Ich habe ihn sehr geliebt, aber ich hatte schon als kleines Mädchen großes Mitleid mit ihm. Er sprach leise, seine ganze Körperhaltung war ohne Stolz. Meine Mutter übernahm in der Ehe die Herrschaft. Mir schien es, als ob sich all ihre Liebe und Zuneigung in der Beziehung zu meinem Vater erschöpft hätte, und für ihre Kinder war nichts mehr übrig. Meine Mutter war trotzdem eine bemerkenswerte Frau. Sie rettete meinem Vater das Leben, sie war sehr stark und in materiellen Dingen sehr großzügig. Wir hatten in Melbourne alles, was wir wollten. Aber als Heranwachsende hatte ich den Eindruck, dass die Beziehung der beiden nicht so war, wie sie hätte sein sollen.

Würden Sie sagen, dass Ihre Eltern nach dem, was sie durchgemacht hatten, gemeinsam auch glückliche Momente erlebten?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich denke, dass ich das Wort Glück nicht gebrauchen würde. Aber es gibt viele verschiedene Arten, einen Menschen zu lieben. Mein Vater war meiner Mutter ewig dankbar und sich der Tatsache sehr bewusst, dass er ohne sie nicht überlebt hätte. Sie hat ihn aus dem Konzentrationslager herausgeholt. Mein Cousin hat erzählt, dass meine Mutter, die dunkelhaarig war, ihre Haare blond färbte und mit einem Menschen in Mülheim über die Befreiung verhandelte. Sie hatte offenbar auch Unterstützer. Aber es gibt Details in dieser Sache, die wir nicht wissen.

Ihr Vater saß in Halle im Gefängnis. Wie haben Sie im Oktober 2019 die Nachricht aufgenommen, dass auf die Synagoge der jüdischen Gemeinde in Halle an Jom Kippur ein Anschlag verübt wurde?
Meine erste Reaktion war: Ich bin so froh, dass mein Vater das nicht mehr erleben muss!

Sie sind Journalistin. Wie hing Ihr Berufsleben mit Ihrer familiären Recherche zusammen?
Zunächst gar nicht. 1971 habe ich mich in London bei der BBC beworben. Danach wurde ich Nachrichtensprecherin und später Programmgestalterin bei ABC in Melbourne. Aber 1991 habe ich in Jerusalem an einem vierwöchigen Kurs für Journalisten in Yad Vashem teilgenommen. Und erst dort habe ich wirklich begriffen, was man meinem Vater und meinem Großvater Karl Strauß angetan hat, der in Auschwitz ermordet wurde.

In Jerusalem haben Sie Ihren Mann, den TV-Journalisten Ehud Yaari, kennengelernt. Sie haben mit 47 Jahren Ihre Karriere aufgegeben und sind nach Israel gezogen …
Das Leben in Israel war so herausfordernd und intensiv, dass ich genügend Herausforderungen hatte. Ich war auch zweimal im Jahr in Australien, um mich um meine demente Mutter zu kümmern. Und nachdem ich damit angefangen hatte, unsere Familiengeschichte zu recherchieren, war ich mit diesem Projekt vollkommen ausgelastet. Ich habe nächtelang recherchiert. Das war mein Leben!

Ihr Buch ist 2017 auf Englisch erschienen. Jetzt kommt es auf Deutsch heraus …
Meine Eltern waren deutsche Juden, die Orte, an denen sie gelitten haben, waren in Deutschland, und ihre Briefe sind in deutscher Sprache. Helene Seidler hat das Buch aus dem Englischen übersetzt, und ich habe es in Israel drucken lassen. Ich habe mich auch an die Gedenkstätten in Dachau, Buchenwald und Halle, Universitäten und Bibliotheken gewendet, weil ich diese Geschichte nach Deutschland zurückbringen wollte.

Sie haben lange gebraucht, um die Dämonen aus Ihrer Kindheit loszuwerden. Jetzt bringen Sie die Bücher an die Stätten, wo die Dämonen entfesselt wurden. Hilft Ihnen das?
Man kann die Dämonen nie vollständig loswerden. Über mich selbst und meine Erfahrungen als Kind der Zweiten Generation habe ich ein eigenes Buch geschrieben. Aber als ich »Ihr Leben, bevor wir sie kannten« schrieb, habe ich mich so sehr auf meine Eltern konzentriert, dass ich selbst nicht mehr im Zentrum stand. Mir ging es um die Fakten.

Mit der Journalistin und Autorin sprach Ayala Goldmann. Das Buch »Ihr Leben, bevor wir sie kannten« erscheint in Kürze. Die englischsprachige Ausgabe »Their Lives Before Us« erschien 2017.

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