Haskala

Medizin für die jüdische Nation

Juden wurden erstmals ab 1678 zum Studium der Medizin an deutschen Universitäten zugelassen. Und Medizin war das erste Fach, das Juden an deutschen Universitäten überhaupt studieren durften. Die ersten jüdischen Akademiker in Deutschland waren jüdische Ärzte. Da das Medizinstudium für Juden im Königreich Polen und im Zarenreich nicht erlaubt war, strömten jüdische Studenten im 18. Jahrhundert auch von dort an die preußischen Universitäten Königsberg, Halle, Göttingen und Frankfurt an der Oder, um Medizin zu studieren und zu promovieren.

Neben Kenntnissen der Medizin erwarben die jüdischen Studenten an der Universität auch breites naturkundliches Wissen, zum Beispiel in der Physik, Biologie und Chemie, die als Universitätsfächer im 18. Jahrhundert noch gar nicht etabliert waren.

Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde es üblich, dass die jüdischen Ärzte zwischen ihren medizinischen und ihren naturkundlichen Forschungen trennten – und dass sie ihre spezialisierten Fachuntersuchungen genauso wie die christlichen Forscher in der Landessprache, meist in Deutsch, publizierten.

Sprachwechsel von Hebräisch zu Deutsch

Hatten die jüdischen Ärzte im 16. und 17. Jahrhundert noch überwiegend in Hebräisch veröffentlicht, erreichten die jüdischen Ärzte ab der Mitte des 18. Jahrhunderts mit medizinisch-wissenschaftlichen Publikationen in Deutsch auch ihre nichtjüdischen Kollegen und bekamen deren wissenschaftliche Anerkennung.

Dieser Sprachwechsel war verbunden mit einer Veränderung des akademischen Habitus: Die jüdischen Ärzte tradierten nicht nur bekanntes medizinisches Wissen enzyklopädisch, sondern generierten durch medizinische und naturkundliche Forschung neues Wissen. Der Medizinhistoriker Eberhard Wolff hat allein in Berlin ab 1750 nicht weniger als 17 aufgeklärte, akademisch ausgebildete jüdische Ärzte identifiziert und biografisch vorgestellt, die hauptsächlich in Deutsch, aber auch in Latein, Englisch und Französisch publizierten.

Auf der Liste: mangelnde Bewegung und Wuchs, Steifheit, Blässe und Nervenkrankheiten.

Die aufgeklärten jüdischen Ärzte hatten eine beeindruckende Präsenz in der deutschen und in der jüdischen Öffentlichkeit. In Isaac Euchels phänomenalem jiddischen Purimspiel, der Komödie Reb Henoch, oder: Woß tut me damit, geschrieben in Berlin 1793, ist ein höchst respektierter jüdischer »Dr. Marcus« die einzige Figur, die Hochdeutsch spricht – der deutschsprachige jüdische Arzt ist der Inbegriff des aufgeklärten Juden. Der aufgeklärte jüdische Arzt ist Akademiker, Intellektueller und gebildeter Repräsentant der jüdischen Gemeinschaft in einem.

Unter den aufgeklärten Ärzten in Deutschland entstand fast gleichzeitig mit den ersten Erfolgen der Haskala und der Debatte um die bürgerliche Verbesserung und Gleichstellung der Juden ein neuer, spezifisch moderner Diskurs über die »Krankheiten der Juden«.

Kritisiert wurden Folgen von übermäßigem Gottesdienst und Fasten

Der Arzt Elcan Isaac Wolf aus Metz steht chronologisch am Anfang dieses neuen Diskurses. Er nennt in seiner Monografie Von den Krankheiten der Juden (1777) die Armut und, daraus folgend, den Mangel an guter Nahrung und Bekleidung sowie beengtes Wohnen und durch Armut erzwungene Obdachlosigkeit bei Juden als wichtige Krankheitsursachen. Diese Fragilität der Lebensumstände erzeugte demnach bei Juden auch eine »Empfindlichkeit der Nerven«, die durch übermäßigen Gottesdienst und Fasten noch verstärkt werde.

Wolf verweist daneben auch auf »übertriebenes Lehren und Lernen« dicker Bücher schon bei Kindern und jungen Männern in der Jeschiwa, das zu mangelnder Bewegung, Steifheit der Bewegungen, Verdauungsstörungen, Schlafstörungen, Blässe, Nervenkrankheiten, ferner Mängeln in der körperlichen Entwicklung und beim Wuchs führe.

Politische Mittel gegen die Krankheiten der Juden seitens des Staates waren die Beseitigung ihrer Armut durch die Zulassung von Juden zu allen Berufen, Handwerk, Zünften, Künsten, Ackerbau, Grundbesitz und öffentlichen Ämtern. Innerjüdisch lauten die Heilungsvorschläge Wolfs: Berufstätigkeit und Bewegung statt allzu frühes, überlanges und ausschließliches Torastudium. Das ist im Jahr 1777 ein Stück medizinisch begründete Religions- und Traditionskritik.

Neu und spezifisch modern an diesem medizinischen Diskurs über die Krankheiten der Juden ist, dass die Juden, oder zeitgenössisch ausgedrückt: die »jüdische Nation«, nicht primär als religiöses Kollektiv betrachtet, dessen Sitten, Sünden, moralisches oder religiöses (Fehl-)Verhalten, dessen Geist, Moral oder Gottesgehorsam von einem religiösen Standpunkt aus kritisiert werden. Neu ist vielmehr, dass die Juden kollektiv in ihrer Körperlichkeit und Physiologie medizinisch betrachtet werden, und dass der jüdische Körper und seine Krankheiten im Mittelpunkt stehen. Gott spielt dabei überhaupt keine Rolle. Von diesem Gesichtspunkt aus machen aufgeklärte jüdische Ärzte medizinische und politische Verbesserungsvorschläge.

Ärzte forderten Verbote von »Wunderkuren« und Dämonenbeschwörung durch Chassidim.

Besonders in Polen und später im Zarenreich fand dieser neue religions- und traditionskritische Diskurs über die Krankheiten der Juden unter den jüdischen Ärzten viele Anhänger. Das 1789 in Berlin erschienene, später in erweiterter Fassung mehrfach nachgedruckte hebräische Buch Sefer Refuot Ha’am (1789) von Menachem Mendel Lefin (1749–1826), dem »Vater« der galizischen Haskala, adressiert und bezieht sich in Hebräisch auf Lebensumstände von Juden in Osteuropa. Inhaltlich verspricht der Titel des Buchs »Heilmittel (Medizin) für das (jüdische) Volk«, medizinische Hilfe für Juden in Osteuropa. Deutlich ist die ideologische Botschaft: Die richtige Medizin für das jüdische Volk ist die moderne westliche Universitätsmedizin.

Nur zwei Jahre später veröffentlichte Lefin in Warschau einen »Essai d’un plan de réforme ayant pour objet d’éclairer la nation juive en Pologne« (1791/92), der gleich ein ganzes Programm von Reformen für die Aufklärung der Juden in Polen vorschlägt. Dieser Essay gehört zu den bekanntesten Polemiken gegen insbesondere die Kabbalisten und den Chassidismus in Polen, denen Lefin Ignoranz und Verachtung für Rationalität und Wissenschaft vorwirft.

Er schreibt, bei Plagen, Seuchen bei Kindern oder Hunger müsse man streng nach den Ursachen suchen, die solche Übel hervorrufen, um diese dann zu beheben. Der Staat solle dagegen keinerlei Toleranz walten lassen, wenn die Chassidim Krankheiten mit Wunderkuren und Dämonenbeschwörungen zu kurieren vorgäben: Das sei »Scharlatanerie«. In Natur und Medizin, gibt sich Lefin überzeugt, passieren keine Wunder.

Scharfe Reformvorschläge gegen Krankenheilung durch Kabbala

Anders als der medizinische Laie Mendel Lefin war Jacques Calmanson (1722–1811) tatsächlich Arzt – und sogar Leibarzt des polnischen Königs Stanisław Poniatowski (1732–1798). Er publizierte 1796 in Warschau einen »Essai sur l’état actuel des Juifs de Pologne et leur perfectibilité«. Darin macht er sehr scharfe Reformvorschläge, die der Staat insbesondere gegen die Chassidim durchsetzen soll. Deren Krankenheilung durch Kabbala muss seiner Meinung nach unterbunden und bekämpft werden.

Auch der aus Slonim in Weißrussland stammende Arzt Moyshe Marcuse, der bis 1766 in Königsberg studiert hatte und 1790 mit seinem Seyfer Refues das erste jiddischsprachige Kompendium der modernen Medizin vorlegte, polemisiert dort nicht nur gegen die traditionelle Volksmedizin in Polen und im Zarenreich – er wünscht, dass ihre Vertreter wegen Quacksalberei in der Hölle schmoren sollen –, sondern er kritisiert ebenfalls die Lebensweise der Chassidim und ihre Wunderheiler.

Aber es war ihm, wie den anderen maskilischen Ärzten, kein durchschlagender Erfolg beschieden. Wie der polnische Historiker Marek Tuszewicki gezeigt hat, gab es in Polen – insbesondere auf dem Land – noch bis zum Ersten Weltkrieg Auseinandersetzungen zwischen den studierten Ärzten und den orthodoxen jüdischen Wunderheilern.

Alle jüdischen Ärzte in Deutschland absolvieren ein Universitätsstudium

Der ärztliche Diskurs über die Krankheiten der Juden, der von den aufgeklärten jüdischen Ärzten gegen die jüdische Orthodoxie gewendet wird, entstand in Deutschland im letzten Drittel des Jahrhunderts. Er wurde in den deutschen Ländern allerdings bald gegenstandslos. Denn der von den jüdischen Ärzten attackierte Chassidismus hatte in den deutschen Ländern nie viele Anhänger. Alle jüdischen Ärzte absolvieren ein Universitätsstudium. Der letzte Baal Schem in Deutschland, der »Wunderrabbiner« und »Baal Schem von Michelstadt« Seckel Löb Wormser, der auf dem Land noch kabbalistische Wunderheilungen durchführte und Amulette beschriftete, starb 1847.

Sind Jeschiwe-Bocher körperlich imstande, in
Israels Kampfeinheiten zu dienen?

Dennoch gehört es zur Geschichte des Antisemitismus in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, den Juden wegen ihrer vermeintlichen körperlichen »Schwäche« die Fähigkeit abzusprechen, Soldat zu sein, und ihre Männlichkeit infrage zu stellen. Dagegen wurde der unbedingte Wille, für König, Kaiser und Vaterland ins Feld zu ziehen, zum Ausweis von jüdischem Patriotismus, ein militärischer Orden war der Beweis jüdischer Männlichkeit.

Das wirkte weiter sogar noch im deutschen Zionismus. Als der Arzt und wichtige Zionist Max Nordau 1898 den Begriff »Muskeljudentum« prägt, ein Muskeljudentum, das die körperlose, rein intellektuelle Tätigkeit von Juden ergänzen soll, und deshalb die körperliche Ertüchtigung jüdischer Männer durch Sport empfiehlt, damit sie gute Bauern und Soldaten in einem jüdischen Staat werden können, reagierte Nordau auf den zeitgenössischen Antisemitismus mit einer medizinisch begründeten Kritik an der rein intellektuellen Tätigkeit jüdischer Männer.

Aber er kritisiert auch die traditionelle Lebensweise von Juden in der Galut und schließt dabei an einen jüdischen medizinischen Diskurs an, den schon die Haskala am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hatte. Er wirkt auch nach bis in die heutigen öffentlichen Diskussionen im Staat Israel um den Militärdienst ultraorthodoxer Männer: Sind die Jeschiwe-Bocher, die nicht berufstätig sind, nie studiert und nie Sport getrieben haben, überhaupt körperlich imstande, in Kampfeinheiten zu dienen? Konnte der Staat Israel die »Krankheiten der Juden« also nur teilweise heilen?

Der Autor ist emeritierter Professor für Jüdische Studien und Philosophie an der Universität Potsdam. Er war 2025 Fellow in der Forschergruppe »Jews and Health« am Katz Center for Advanced Judaic Studies in Philadelphia.

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