Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

Herr Weidermann, Sie haben ein Buch über Mascha Kalékos erste Deutschlandreise nach dem Krieg geschrieben. Was genau machte diese Reise so besonders?
Es ist wohl der unmittelbarste Zugang in Mascha Kalékos Leben – und zwar durch ihre Briefe. Mascha Kaléko hatte in New York ihren Mann Chemjo, die Liebe ihres Lebens, zurückgelassen und verschickte, fast wie wir heute, pausenlos Nachrichten. Allerdings waren es keine WhatsApp-Nachrichten, sondern Briefe, täglich manchmal zwei oder drei. Nie zuvor hatte sie so intensiv geschrieben. Wer diese Briefe liest, erlebt die Dichterin hautnah: ihre Fassungslosigkeit und ihr Glück, ihre Hoffnung und Angst. In jedem ihrer Sätze liegt dieses Schwanken zwischen Aufbruch und Entsetzen – als könne sie hier entweder als gefeierte Dichterin zurückkehren oder aber das Höllentor der Vergangenheit könnte sich wieder öffnen. Das war für mich auch das Faszinierende daran – die Frage, ob es nach dem Exil ein zweites Leben hätte geben konnte. Die meisten jüdischen Rückkehrer scheiterten, und auch Kaléko blieb das Glück des zweiten Lebens in Deutschland verwehrt.

Sie verließ Berlin und das selbe Land, das sie vertrieben hatte, begrüßte sie nun euphorisch. Das ist doch verrückt.

Mascha Kaléko selbst nannte diese Reise 1956 ihren »Schlachteplan«. Wie  kam es dazu?
1956 war ein Scharnierjahr für Mascha Kaléko. Man spürt in all den Briefen und Texten von ihr das Bemühen, den Faden der deutsch-jüdischen Literaturtradition, den die Deutschen verbrannt hatten, wieder neu zu knüpfen. Ihre Briefe zeigen auch einen unbändigen Lebens- und Liebeshunger, den sie intensiv auslebte. Ich liebe das. Kaléko wäre – mit ihrer Offenheit und ihrem Temperament und ihrer Vorurteilslosigkeit – eine ideale Brückenfigur gewesen zwischen der alten und der neuen deutschen Literatur. Sie verließ Berlin in allerletzter Sekunde und kehrte siebzehn Jahre später zurück – und das selbe Land, das sie zuvor vertrieben und ihr nach dem Leben getrachtet hatte, begrüßte sie nun euphorisch. Zum Teil waren das die selben Leute. Das ist doch verrückt. Maxim Biller fasste es mal böse, aber treffend zusammen: »So sind die Deutschen: Erst bringen sie alle Juden um und dann tut es ihnen auch noch leid.« Ein schizophrenes Land. Und für Mascha Kaléko war es nicht wirklich einzuschätzen: Bleibt das jetzt so? Lieben die mich echt jetzt? Oder wollen die mich dann doch lieber wieder umbringen?  

Hermann Kesten hatte sie gewarnt, zurückzukehren. Warum tat sie es trotzdem?
Deutschland schien, elf Jahre nach Kriegsende, ein Wiedergutmachungsland zu sein, ein demokratisches Wirtschaftswunderland. Mascha Kaléko war jahrelang extrem misstrauisch, beantwortete keine Briefe aus Deutschland, selbst von Rowohlt, ihrem Verlag, nicht, obwohl sie Deutschland liebte – sie empfand Angst und Hass zugleich. In den USA hatte sie als Dichterin kein Publikum, war nicht heimisch geworden. Berlin aber war ihre Stadt, ihr Zuhause. Und Rowohlt schrieb ihr immer wieder: »Deutschland braucht Sie.« Wie hätte sie dem dauerhaft widerstehen sollen? Sie glaubte – allen Enttäuschungen zum Trotz – an die Welt und an sich selbst.

Sie beschreiben Mascha Kaléko in Ihrem Buch offen, warm, fast kindlich.
Ja, sie hatte etwas Herzöffnendes. Keine Scheu, mit jedem zu sprechen – und doch eine enorme Verletzlichkeit. Sie frisierte ihre Biografie ein wenig, machte sich jünger, verschleierte ihre ostjüdische Herkunft. Aber das war typisch für viele ihrer Generation. Es war der Versuch, dazuzugehören, anerkannt zu werden, selbst nach dem Krieg.

Mascha Kaléko glaubte – allen Enttäuschungen zum Trotz – an die Welt und an sich selbst.

Dennoch steht ihr Exil-Werk bis heute im Schatten ihrer Berliner Zeit. Kaléko wird als »weiblicher Kästner« oder »weiblicher Ringelnatz« etikettiert. Das reduziert sie auf die frühen, heiteren Gedichte aus dem »Lyrischen Stenogrammheft«. Ihre späteren, tief verletzten, politischen Texte kennt kaum jemand. Warum?
Ihre großen, emblematischen Exil-Gedichte wie »Minetta Street« oder jenes berühmte »Höre Teutschland«, das im »New York Times Magazine« erschien und sie dort bekannt gemacht hat, kennt man. Darin kehrt sie alles, wofür sie zuvor stand – Liebe, Melancholie, Zartheit – ins Gegenteil, wenn sie schreibt: »Wie hass ich euch, die mich den Hass gelehrt!« Das ist ein Wendepunkt in ihrem Werk. Ansonsten bleibt von ihr oft nur das Klischeebild der frühen Jahre, das »Lyrische Stenogrammheft« und damit diese leuchtende Berliner Zeit Doch sie hat später noch unzählige Gedichte geschrieben – viele wurden erst posthum entdeckt. Einige davon sind phänomenal. Und genau diese Entwicklung, die in meinem Buch im Jahr 1956 ihren Ausgang nimmt und 1959 ihren Scheitelpunkt erreicht, war für mich so zentral.

Sie sprechen den Fontane-Preis an, für den Kaléko 1959 nominiert war und ihn ablehnte. Was hielt sie davon ab?
Oh, sie hätte ihn sehr gerne angenommen. Das war doch endlich die große, offizielle, deutsche Anerkennung, auf die sie so hoffte. Leider war der Vorsitzende der Abteilung für Literatur Hans Egon Holthusen, ein langjähriger SS-Mann, der schon 1933 eingetreten war. Ein echter Überzeugungs-Mann. Der sollte ihr den Preis übergeben und Mascha Kaléko wollte das nicht. Und statt dass die Akademie dann eine andere, angemessene Lösung suchte, beschied man ihr: »So machen wir das in Deutschland. Und wenn es den Emigranten nicht passt, dann können sie ja wegbleiben.« Und den Preis vergab man dann einfach an Gregor von Rezzori. Dieser Moment war so etwas wie eine zweite Auslöschung. Viele überlebende Emigranten haben das erlebt, als sie versuchten in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Vier Jahre später verlor sie auch noch ihren Verlag; Rowohlt gab ihre Rechte zurück und die anderen großen deutschen Verlage zeigten an ihrer Lyrik kein Interesse mehr. Ihr wurde zum zweiten Mal der Boden entzogen – diesmal leiser, aber nicht weniger brutal. Aber alles war offiziell korrekt, entnazifiziert, demokratisch, sauber – die Folgen aber zerstörerisch.

Hans Egon Holthusen, ein langjähriger SS-Mann, sollte ihr den Preis übergeben und Mascha Kaléko wollte das nicht.

Mascha Kaléko war nicht die einzige deutsche Exil-Dichterin, die nach dem Krieg zu kämpfen hatte. Was lief hier schief?
In Deutschland ist die Dramatik der Situation der zurückkehrenden Emigranten noch immer wenig bewusst. Das dauerhafte Desinteresse, die Lücke, die nach dem Krieg gerissen wurde, und das Unverständnis, dem die Autoren und Autorinnen begegneten, sind enorm vielschichtig und dramatisch. Viele, wie Alfred Döblin, hielten nur kurz durch, hielten Vorträge und verließen dann schnell wieder das Land. Andere wie Paul Celan nahmen sich das Leben.

Woran störte man sich bei Mascha Kaléko?
Ihre Lyrik war stets gefährdet, nicht ernst genommen zu werden, besonders im Nachkriegsdeutschland, alles musste kompliziert, theoretisch abgesichert, möglichst unverständlich sein. Sie sprach und dichtete direkt, unvermittelt und mit einem magisch traumsicheren Sprachgefühl. Sie repräsentierte ein anderes, jüdisches Schreiben, für das kein Resonanzboden mehr existierte. Einmal saß Mascha Kaléko im Publikum bei einer Diskussion der deutschen Poeten der Stunde, Günter Grass, Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger, da rief sie empört: »Die Männer hier fühlen mit dem Hirn.«

Ihr Buch klingt an manchen Stellen auch wie eine Abrechnung mit der deutschen Nachkriegsliteratur.
Eher wie ein Nachweis. Ich will zeigen, wie brutal selbstgewiss dieser sogenannte Neubeginn war – und wie konsequent man die jüdische Literaturtradition ignorierte. Die Nachkriegsliteratur ist auf einem Betonfundament des Schweigens errichtet worden. Hans Globke war Kanzlerberater, ehemalige NS-Funktionäre bekamen Bundesverdienstkreuze – und Mascha Kaléko keinen einzigen Preis. Auch Nicht-Anerkennung kann töten.

Am Ende fühlte Mascha Kaléko überall Ort fremd – in ihrem geliebten Berlin, aber auch New York und später in Jerusalem.
Bei Mascha Kaléko war es wie bei Marcel Reich-Ranicki oder Joseph Roth: Berlin war von Anfang an ihre Stadt. Als sie kam, fühlte es sich an, als würde ein Baum Wurzeln schlagen – hier konnte sie bleiben, hier gehörte sie hin – dachte sie.

Die deutsche Sprache ja, die hat sie geliebt. Und die Sprache liebte sie zurück.

Aber sie wurde zur permanent Flüchtenden, immer auf der Suche nach einem Zuhause, das es nicht mehr gab.
»Ich bin als Emigrantenkind geboren«, schrieb sie einmal. Ihr Leben war eine Folge von Verpflanzungen. In ihren letzten Lebensjahren in Jerusalem lebten sie und ihr Mann beinahe ganz isoliert; sie sprach kein Hebräisch. Und ihr Tod in Zürich, in einer Transitstadt, weil der Fahrstuhl in ihrem Haus in Jerusalem defekt war und sie nicht zurück nach Israel konnte – das war fast symbolisch.

Also blieb ihr nur noch die Sprache?
Die deutsche Sprache ja, die hat sie geliebt. Und die Sprache liebte sie zurück. Aber es war ja noch viel mehr als das. Die Natur, die Luft, die Straßen, die Menschen, die Dialekte, die Farben. In Berlin war sie wie trunken vor Glück und heimatlicher Freude. Kurt Tucholsky hat das einmal so schön gesagt, man sage »Du« zum Boden, wo man zu Hause ist. Im Ausland sagt man »Sie«. Für Mascha hatte das alles beinahe mythische Kraft. Und die Bleibtreustraße war ihr Lebenssymbol. Sie kam als Kind nach Berlin dorthin, lebte dort, wurde dort abgewiesen, kehrte dorthin zurück, als sie schon todkrank war. Und dass die Straße »Bleibtreu« heißt, das ist fast zu schön, um wahr zu sein.

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Wie haben Sie selbst Mascha Kalékos Werk für sich entdeckt?
Das war schön. Und es ist jetzt 25 Jahre her. Ich lernte eine tolle Frau kennen, verliebte mich sehr und sie hatte eine kleine Tochter, drei Jahre alt, die sich direkt in mein Herz quatschte, lachte, spielte und die hieß und heißt heute noch: Mascha. Benannt nach Mascha Kaléko. Ihre Mutter ist heute meine Frau und die Dichtung Mascha Kalékos, die habe ich gleich danach kennen- und lieben gelernt und das hält bis heute an. Nein, wird eigentlich größer jeden Tag. In den Tagen damals lernte ich auch Marcel Reich-Ranicki kennen, der nicht weit von der Bleibtreustraße damals, im Herbst 1938 aus Berlin deportiert worden war. Er liebte die Gedichte Mascha Kalékos auch sehr. Es war schön, mit ihm über sie zu sprechen.

Wie sind Sie für »Wenn ich eine Wolke wäre« vorgegangen?
Ich habe ihre Briefe unzählige Male gelesen, bis ich sie fast auswendig konnte. Ich konnte mich auf großartige Vorarbeiten stützen – vor allem auf die Biografie von Jutta Rosenkranz und die kommentierte Werkausgabe. Archivrecherchen habe ich kaum gemacht. Ich wollte kein wissenschaftliches Buch schreiben, sondern eines, das aus Leidenschaft entsteht.

Und wenn Sie Mascha Kaléko heute begegnen könnten – was würden Sie ihr sagen?
Zuerst würde ich ihr natürlich eine Liebeserklärung machen, würde ihr erzählen, was ihre Verse mir bedeuten, würde ihr von meiner Mascha erzählen und was die so macht, mit ihrem Namen und ihrem Leben. Und dann wäre ich endlich still und würde ihr zuhören. Sie wusste so viel, über das Leben, über die Menschen – beinahe alles.

Mit dem Literaturkritiker sprach Nicole Dreyfus.

Volker Weidermann: »Wenn ich eine Wolke wäre«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 235 S., 23 €

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