Literatur

Lyrik einer jungen Diaspora

Ebenfalls mit eigenen Gedichten vertreten: Michal Zamir Foto: Yehuda Swed

Literatur

Lyrik einer jungen Diaspora

Israelische Autoren, die in Deutschland leben, präsentieren ihre Gedichte in einer Anthologie und bei einer Lesung in Berlin

von Ralf Balke  20.02.2020 13:30 Uhr

Illustre Vorbilder gibt es nicht wenige. So lebte Shmuel Yosef Agnon, Literaturnobelpreisträger und einer der wichtigsten Autoren Israels, ebenso eine Zeit lang in Berlin wie der Nationaldichter Chaim N. Bialik oder der Lyriker und Journalist Uri Zvi Greenberg. Bereits vor über 100 Jahren legten sie den Grundstein für das, was man heute als moderne hebräische Literatur kennt.

»Und sie waren keine Einzelgänger«, wie Gundula Schiffer betont. »Auch in Warschau, Odessa oder Kaunas gab es Zirkel von Autoren, die ihre Romane oder Gedichte bereits auf Hebräisch schrieben«, so die in Köln lebende Dichterin und Übersetzerin. »Die moderne hebräische Literatur und Lyrik ist also eigentlich außerhalb Israels entstanden und damit auch weitaus älter als der Staat selbst.«

Vor allem in Berlin ist eine kreative und vielfältige israelische Szene entstanden.

Nun scheint sich dieser Geschichte ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Denn in den vergangenen Jahren zog es zahlreiche Israelis ins Ausland. Vor allem in Berlin ist eine äußerst kreative und vielfältige israelische Szene entstanden. Man lebt zwar in Deutschland, spricht häufig auch mittlerweile die Sprache, aber schreibt weiterhin auf Hebräisch.

SPRACHE Eine quasi eigenständige Stilrichtung konnte sich so weltweit herauskristallisieren, das »Ivrit Diasporit«, zu Deutsch: das Hebräisch der Diaspora. »Das führt natürlich zu der Frage, wie man eine Literatur am Leben erhält und weiterentwickeln kann, wenn man als Israeli in einem anderen Land lebt«, sagt Schiffer.

»Daraus entstand die Idee für unsere Anthologie unter dem Titel Was es bedeuten soll – Neue hebräische Dichtung in Deutschland«, erklärt Schiffer, die neben Adrian Kasnitz, dem Leiter von Parasitenpresse, einem kleinen, in Köln ansässigen Verlag mit dem Schwerpunkt Lyrik, zu den beiden Herausgebern zählt.

Mit dem »Ivrit Diasporit« hat sich eine eigenständige Stilrichtung herauskristallisiert.

Präsentiert werden in dem Band Texte von zwölf hierzulande lebenden israelischen Autorinnen und Autoren. Die dreizehnte ist Schiffer selbst, die als Deutsche auf Hebräisch Gedichte verfasst, auch das ein Sonderfall. »Vor zwölf Jahren habe ich damit angefangen.« Inhaltlich ist sie, die die Texte der anderen für das Buch übersetzt hat, recht breit aufgestellt, wobei klassische Themen wie Liebe oder Sehnsucht dominieren.

Resonanz »Mit unserer Anthologie wollen wir auch eine Literaturszene für deutsche Leser, die kein Hebräisch sprechen, sichtbar machen«, bringt Kasnitz die Motive dahinter auf den Punkt. Bereits in der Vergangenheit hatte er mit dänischen oder griechischen Autoren ähnliche Projekte verfolgt. »Darauf haben wir immer sehr viel positive Resonanz erhalten.«

Vor einigen Jahren dann organisierte er eine Lesung mit der ebenfalls in dem Band vertretenen Autorin Maya Kuperman, die aber nicht nur auf Hebräisch, sondern zudem auf Englisch ihre Gedichte verfasst. Dadurch erfuhr Kasnitz, dass es hierzulande noch mehr Israelis gibt, die schreiben können. Das machte ihn neugierig.

»Migration ist eine sehr nachhaltige Erfahrung, die einer der zentralen Gegenstände meiner Texte geworden ist, seit ich hier lebe«, sagt Kuperman über sich und ihre Arbeit.

Erfahrungen im Ausländeramt werden ebenso angesprochen wie die Tücken deutscher Schachtelsätze.

Zweifellos spricht sie damit stellvertretend für die absolute Mehrheit der Autorinnen und Autoren, die in den Räumlichkeiten des Vereins Lettrétage, Gründungsmitglied des Netzwerks Freie Literaturszene Berlin, ihre Texte aus der Anthologie einem interessierten Publikum präsentierten.

Heimat So werden bei Ronen Altman Kaydar Erfahrungen im Ausländeramt ebenso angesprochen wie die Tücken deutscher Schachtelsätze – wenig überraschend heißt sein Gedicht dann auch »Kummer«. Immer wieder geht es dabei um die Sprache, »die man hinter sich lässt«, wie es bei Yael Dean Ben-Ivri heißt, aber ohne die sich keiner so richtig auszudrücken vermag und die weiterhin irgendwie Heimat bleibt.

Alle Autoren haben schon in Israel oder Deutschland einiges publiziert.

Was zudem auffällt: Alle Autoren sind keine Anfänger, sondern haben bereits in Israel oder Deutschland einiges publiziert. So wie Mati Shemoelof, der kürzlich 40 Gedichte in dem Band Bagdad – Haifa – Berlin veröffentlichen konnte.

Oder auch Michal Zamir, die jüngst gemeinsam mit Yael Almog den zweisprachigen Lyrikband Zwischen den Zeilen herausbrachte und seit Jahren ihr Projekt »Die hebräische Bibliothek in Berlin« betreibt, das sich mittlerweile zu einem literarischen Salon gemausert hat.

GEFÄLLE Zudem sind die meisten zwischen Mitte 30 und Anfang 50 Jahre alt. Einige sind »Quereinsteiger«. So hat beispielsweise Ronen Altman Kaydar in Tel Aviv erst Mathematik und Physik studiert, bevor er zu schreiben anfing. Andere bringen zudem misrachische Erfahrungen in ihre Texte ein, was sie wiederum dazu motiviert, in Berlin ebenfalls mit arabischsprachigen Autoren zusammenzuarbeiten.

Das Projekt liestet einen wichtigen Beitrag dazu, der hebräischen Lyrik in Deutschland Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Selbstverständlich gibt es bei so verschiedenen Autoren auch ein qualitatives Gefälle, wie sich bei der Präsentation zeigen sollte. So beeindruckten vor allem die Gedichte von Asaf Dvori durch ihre Prägnanz und Sprachgewalt. In knappen Worten vermochte er es völlig schnörkellos, aber recht drastisch, die Biografie einer aus dem Irak stammenden Israelin und ihren körperlichen Verfall zu skizzieren.

Anders dagegen Tomer Dotan-Dreyfus, in dessen Gedicht der »Wind heult« und auch schon mal eine »Kuh brüllt«, was am Ende alles etwas effekthascherisch daherkommt.

Zweifellos ist Was es bedeuten soll ein ambitioniertes Projekt, das einen wichtigen Beitrag dazu leistet, der hebräischen Lyrik hierzulande die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie verdient.

»Was es bedeuten soll. Neue hebräische Dichtung in Deutschland«. Herausgegeben und aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer und Adrian Kasnitz. Parasitenpresse, Köln 2019, 136 S., 15 €

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