Wuligers Woche

Lob der Langeweile

Merkel und Schulz im Duell: definitiv kein Trigger für einen erhöhten Adrenalinspiegel Foto: imago

Als gutes, gar süßes Jahr wird 5777 wohl nicht in die Geschichte eingehen, den Rosch-Haschana-Brachot zum Trotz. Donald Trump wurde US-Präsident; Terroranschläge in Berlin, Manchester, Barcelona und anderen Städten töteten Hunderte Menschen; Naturkatastrophen bisher unbekannten Ausmaßes verwüsteten ganze Landstriche; auf der koreanischen Halbinsel droht ein – möglicherweise atomarer – Krieg; iranisch unterstützte Milizen stehen fünf Kilometer vom Golan entfernt; weltweit hat die Zahl antisemitischer Übergriffe zugenommen. 5777 war miserabel. Da hat aller Honig nicht geholfen.

Nur für den Berufsstand der Irgendwas-mit-Medien-Macher war das Jahr ein Glücksfall. Journalisten gilt der oft zitierte, den Chinesen zugeschriebene Satz »Mögest du in interessanten Zeiten leben!« nicht als Verwünschung, sondern als Segensspruch.

katastrophen Kein Redakteur musste 5777 fürchten, sein Programm oder seine Seiten nicht voll zu bekommen. Kaum ein Tag, an dem nicht mindestens eine – meist katastrophenträchtige – Pushmeldung herausgehauen werden konnte und den Adrenalinspiegel der Sender wie Empfänger auf Höchstniveau trieb.

Vielleicht nölen deshalb so viele Medienmacher und -konsumenten jetzt darüber, dass der deutsche Wahlkampf langweilig war. Sie sind auf Entzug. Und so klagen sie über zu viel Konsens und zu wenig Kontroverse, kreiden Merkel und Schulz ihre Höflichkeit im TV-Duell an. Als kleiner Trost für alle, die Politik mit billigem Drama verwechseln, zickt wenigstens Frau Weidel von der AfD im Fernsehen herum, und in Ostdeutschland tobt der rechte Pöbel mit Hassparolen und Tomatenwürfen.

Dass allerdings dieser Mob, wie in den USA, seine Leute an die Macht bringt, die dann täglich Stoff für neue knackige Meldungen liefern, ist zum Glück so gut wie ausgeschlossen. In Deutschland wird es nach der Wahl weitergehen wie zuvor: unaufgeregt, maßvoll und im Tonfall leise. Chaos gibt es anderswo genug.

glück Gerade Juden sollten das, noch mehr als andere, zu schätzen wissen. In Zeiten historischer Langeweile ging es uns noch stets am besten. Hegel hatte recht: »Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in der Weltgeschichte.« Ereignisreiche Epochen dagegen brachten den Kindern Israels meist nur Unglück. Man schaue bloß in ein beliebiges Geschichtsbuch: Wo Unruhe ausbricht, sind Pogrome nicht weit. Wie gut, sicher und hoffnungsvoll etwa lebten die Juden Mitteleuropas bis 1918 in der verpennten österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, verglichen mit dem, was ihnen die Umwälzungen danach bescherten.

Der Wahlkampf war nicht spannend? Gut so! Die kommende Regierungszeit wird hoffentlich genauso frei von Aufregungen werden. Noch besser wäre, die dramafreie deutsche Politik machte auch in anderen Ländern Schule. Interessante Zeiten gab es in den vergangenen zwölf Monaten mehr als genug. Ein bisschen Ruhe zwischendurch haben wir verdient. Ich wünsche uns ein langweiliges Jahr 5778. Schana Towa!

Streaming

»Bros«: Zwei Trottel, eine Bar

Die erste rein hebräischsprachige und israelische Original-Produktion für Netflix startet heute weltweit

von Ayala Goldmann  18.04.2024

Interview

»Deutschland ist eine neurotische Nation«

Bassam Tibi über verfehlte Migrationspolitik, Kritik an den Moscheeverbänden und Ansätze für islamische Aufklärung

von Christoph Schmidt  18.04.2024

Verschwörungstheorien

Nach viel kritisiertem Israel-Hass-Video: Jetzt spricht Dieter Hallervorden

Der Schauspieler weist die Kritik an seiner Veröffentlichung zurück

 18.04.2024

Venedig

Israelhasser demonstrieren bei Kunstbiennale

Die Demonstranten forderten einen Boykott israelischer Künstler

 18.04.2024

Klassik

Eine Liebeserklärung an die Mandoline

Der israelische Musiker Avi Avital verleiht Komponisten wie Bach oder Vivaldi einen unverwechselbaren neuen Touch

von Christine Schmitt  18.04.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 18.04.2024

Restitution

Bundesregierung will Herausgabe von NS-Raubkunst erleichtern

Gesetzentwurf sieht unter anderem einen Auskunftsanspruch gegenüber Personen vor, die NS-Raubkunst in Verkehr bringen

 17.04.2024

Berlin

Wenn aus Projektionen Projektile werden

Experten diskutierten bei einer Tagung der Bildungsabteilung im Zentralrat, wie anti-israelische Obsessionen wirken

von Mascha Malburg  17.04.2024

Philosophie

Mit Sartre gegen die Enge

Vincent von Wroblewskys Autobiografie »Vermutlich Deutscher« ist ein kleines Meisterwerk

von Marko Martin  17.04.2024