Jazz

Leicht. Fröhlich. Jiddisch!

Chava Levi und Polina Fradkin sind »The Shvesters«. Nun wollen sie Konzertsäle erobern

von Nicole Dreyfus  08.08.2024 10:04 Uhr

»Wir wollen mit unseren Songs Leichtigkeit ins jüdische Leben bringen«: Polina Fradkin (29) und die 25-jährige Chava Levi (r.) Foto: Jonathan Deutsch

Chava Levi und Polina Fradkin sind »The Shvesters«. Nun wollen sie Konzertsäle erobern

von Nicole Dreyfus  08.08.2024 10:04 Uhr

»Schtejt a Bocher, schtejt un tracht / tracht un tracht a ganze Nacht / wemen zu nejmen un nit varschejmen / wemen zu nejmen un nit varschejmen.« (»Es steht ein Jüngling, steht und grübelt / grübelt und grübelt die ganze Nacht: welche er nehmen soll / ohne die falsche Wahl zu treffen.«) Ob der Jüngling im jiddischen Liebeslied »Tumbalalaika« seine Angebetete findet, bleibt offen.

Klar ist aber: Wer denkt, jiddische Musik sei grundsätzlich schwer und traurig, der irrt. Den neuesten Gegenbeweis liefern Chava Levi (25) und Polina Fradkin (29). Jeder Auftritt auf ihren Social-Media-Kanälen ist charmant und wirkt ansteckend, leicht und beschwingt. Es ist vielleicht ein bisschen so wie mit der traditionellen Hühnersuppe. Auch sie hat wärmende Wirkung und gehört keinesfalls nur ins Kochrepertoire jüdischer Großmütter.

Wenn die beiden Amerikanerinnen also die ersten Töne von »Dona Dona«, »Nicht auf Zintug« oder anderen jiddischen Klassikern anstimmen, wird es den Zuhörern warm ums Herz. Diese Hühnersuppe enthält viel musikalische Petersilie, hat genau den Geschmack, den sie haben sollte und ist durch und durch zeitgenössisch angerichtet. Fradkin und Levi setzen ihre jiddischen Lieder in einer Weise um, die frischer und puristischer nicht sein könnte. Sie bedürfen keiner Instrumente und sind so fein aufeinander abgestimmt, dass ihr Gesang beinahe symbiotisch klingt.

Dieser jiddische Jazz hat mit Klezmer so wenig zu tun wie Hühnersuppe mit Gefilte Fisch.

Polina liefert als Zutat ihre Grundstimme, Chava die jazzigen Schlenker. Ihr »Gewürz« sind melodische Melismen, die jedem Lied die passende Koloratur verleihen. Doch die Harmonien sind sorgfältig ausbalanciert, die Sprache ist sehr präzise. Dieser jiddische Jazz, der mit Klezmer so wenig zu tun hat wie Hühnersuppe mit Gefilte Fisch, erinnert an die Erfahrung jüdischer Einwanderer, die irgendwann begannen, sich in den USA niederzulassen.

Insofern ist die Musik zeitlos und jung. Obwohl die Lieder das Gestern besingen, beweinen es die beiden Frauen aus Detroit nicht. »Das Jiddische ist meisterhaft darin, die große Traurigkeit des jüdischen Schicksals nach außen zu transportieren. Das wollen wir durchbrechen, indem wir mit unseren Songs Leichtigkeit ins jüdische Leben bringen«, erklärt Polina ganz selbstverständlich. »Wenn wir uns näher mit dem jiddischen Theater oder den vielen jiddischen Liebesliedern befassen, eröffnet sich uns ein großes Spektrum an Emotionen, die keinesfalls allesamt schwer und traurig sind«, sagt die junge Frau, die heute in Tel Aviv lebt, im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.

Jiddisch zu singen bedeutet, nach Hause zu kommen

Aber natürlich sei auf Jiddisch zu singen für beide eine Art, nach Hause zu kommen. »Wir tragen ein jiddisches Erbe in uns«, fügt Chava, die Jüngere, hinzu. Beide sind mit diesem großen Schatz an jiddischer Musik aufgewachsen, Chava in einem etwas religiöseren Haus als Polina. Ihre Familie ist in den 90er-Jahren aus Russland in die USA ausgewandert.

»Auch in meiner Kindheit spielte jiddische Musik eine große Rolle«, erinnert sich Polina. »Bei jeder Veranstaltung, die meine Großmutter organisierte, schlug sie nachdrücklich vor, welches jiddische Lied meine Geschwister und ich aufführen sollten.«

Heute wollen die selbstbewussten jungen Frauen zeigen, dass ihre Art von Musik frisch und überraschend sein kann. »Wir wollen nicht nur für Omas und Opas singen, obwohl wir unsere Großeltern über alles lieben«, sagt Polina Fradkin, und ihre enge Freundin, Chava Levi, nickt ihr lachend zu.

Dann ergänzt sie ernst: »Aber deine Großmutter ist schon sehr wichtig für uns, Polina. Wir konsultieren sie bei jedem neuen Lied, das wir einstudieren.« Ja, ihre Großmutter sei ihre schärfste Kritikerin, fügt Polina hinzu. Sie beobachte ebenfalls haargenau, ob sie beide das Jiddische, das sie mit der Zeit mehr und mehr verstehen, auch korrekt aussprechen würden. »Meine Oma spricht noch Jiddisch, und wir sehen genau an ihrem Blick, ob es ihr passt oder nicht.«

Den Grundstein für »The Shvesters« legten Chava und Polina natürlich selbst. Angefangen hatte alles, als die beiden 2017 in Tel Aviv die Idee hatten, »einfach ein sehr jazziges jiddisches Lied zusammen für ein paar Freunde zu singen.« Polina erinnert sich daran, dass es »Eishes-Chiyell« aus dem Jahr 1965 von den Barry Sisters, einem jiddischen Jazzduo aus den USA, war. »Es hatte einfach nur Spaß gemacht – und es war die Geburtsstunde von ›The Shvesters‹.« Daraufhin eröffneten die beiden Freundinnen einen Instagram-Account, ließen ihn aber für längere Zeit ruhen. »Ich studierte Jazz in den USA. Doch die Idee, irgendwann etwas Musikalisches mit Polina umzusetzen, ließ mich nicht mehr los«, erinnert sich Chava.

Fachwissen und Technik

»Du bringst das musikalische Fachwissen und die Technik mit, ich das Jiddische«, fügt Polina hinzu. »Das ist nicht wahr«, kontert ihre Freundin, »du bist ebenfalls eine hervorragende Musikerin.« Polina, die bis heute im Tech-Bereich arbeitet, lacht verlegen und merkt an, sie habe Politik- und Literaturwissenschaft studiert.

Aber die jiddische Sprache habe sie beide seit früher Kindheit begleitet. Daher hätten sie auch den Anspruch, jeden Song, den sie interpretieren, genau zu verstehen. Es gehe nicht nur um die richtige Aussprache des Jiddischen, »sondern auch um die tiefere Bedeutung in den Liedern und deren Geschichte. Wir bemühen uns, alles genauestens zu ergründen«.

Die schärfste Kritikerin der »Shvesters« ist Polinas Oma, die noch Jiddisch spricht.

So singen sie sich von Lied zu Lied, nicht nur stimmlich, sondern auch optisch aufeinander abgestimmt. Manchmal in Jeans mit bunter Bluse, manchmal in lässigem Kleid. Aber immer »casual chic«, als würde man die beiden gerade zu »coffee in town« treffen.

Ihre einminütigen Videos sind entweder in einem gut hallenden Treppenhaus (momentan ziemlich im Trend) oder in einer Wohnung abgedreht. »Für eine Minute arbeiten wir so ziemlich genau einen ganzen Tag«, berichtet Chava. Manchmal sind es 20 bis 30 Takes, bis ein Lied im Kasten ist.

Einmal auf Instagram oder TikTok gepostet, gehen die Videos viral

Die Investition lohnt sich. Einmal auf Instagram oder TikTok gepostet, gehen die Videos viral. Die beiden Frauen haben mittlerweile Tausende von Likes und Hunderttausende von Followern, was sie vermutlich zu den aktuell erfolgreichsten jiddischen Sängerinnen macht.

»The Barry Sisters«, nicht minder erfolgreich, aber in einer anderen Zeit geboren, hätten sich eine solche Reichweite wohl gewünscht. »Dabei ist gerade dieses Vokalduo, das für seine Fusion aus Klezmer und Jazz bekannt war, eine große Inspirationsquelle für uns«, sagt Polina. So sei es auch kein Zufall, dass die beiden Fast-Schwestern sich den Namen »Shvesters« gaben. Obwohl beide mit vielen Geschwistern aufgewachsen sind, fühlen sie sich einander sehr verbunden.

»Und ich bin Chavas ›Schadchen‹ (Heiratsvermittlerin)«, ergänzt Polina in gespielt ernstem Ton, »denn durch mich hat sie ihren Ehemann kennengelernt.« Die beiden Freundinnen, deren Familien sich schon lange kennen, müssen herzhaft lachen.

»Wir lernten uns kennen, als wir Teenager waren. Meine Familie hält Schabbat – und was macht man an Schabbat? Man singt!«, erinnert sich Chava. Und Polina ergänzt: »Ich war viel bei Chava zu Hause, und wir haben einfach den ganzen Schabbat über nur gesungen, natürlich ohne Ins­trumente.« Polina musizierte früher viel mit ihren jüngeren Geschwistern, begleitete sie oft an der Gitarre.

Heute stehen die »Shvesters« hauptsächlich auf einer virtuellen Bühne. Doch die beiden jüdischen Frauen, die das Internet im Sturm eroberten, haben erste Konzerterfahrungen hinter sich. Weitere Konzerte in Tel Aviv und New York sind geplant. Im Winter kommen sie auch nach Deutschland. Auch dann werden sie vermutlich singen: «Oyfn veg shteyt a boym, / Shteyt er ayngeboygn, / Ale feygl funem boym / Zaynen zikh tsefloygn. (Am Wegesrand steht ein Baum / Er steht gebückt da, alle Vögel vom Baum / haben sich zerstreut.)

Comic

Es lebe der Balagan!

Die israelische Illustratorin Einat Tsarfati legt ein aufgeräumtes Buch über Chaos vor

von Tobias Prüwer  14.12.2024

Düsseldorf

»Seine Prosa ist durchdrungen vom tiefen Verständnis und empathischer Nähe«

Der Schriftsteller David Grossman wurde am Samstag mit dem Heine-Preis ausgezeichnet

 14.12.2024

Alexander Estis

»Ich bin Pessimist – aber das wird bestimmt bald besser«

Der Schriftsteller über die Folgen der Kriege in der Ukraine und Nahost, Resilienz und Schreiben als Protest

von Ayala Goldmann  12.12.2024

Kino

Film-Drama um Freud und den Lieben Gott

»Freud - Jenseits des Glaubens« ist ein kammerspielartiges Dialogdrama über eine Begegnung zwischen Sigmund Freud und dem Schriftsteller C.S. Lewis kurz vor dem Tod des berühmten Psychoanalytikers

von Christian Horn  12.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 12. Dezember bis zum 18. Dezember

 12.12.2024

London

Hart, härter, Aaron Taylor-Johnson

Ein Marvel-Schurke zu sein, ist körperlich extrem anstrengend. Dies räumt der jüdische Darsteller nach dem »Kraven The Hunter«-Dreh ein

 11.12.2024

PEN Berlin

»Gebot der geistigen und moralischen Hygiene«

Aus Protest gegen Nahost-Resolution: Susan Neiman, Per Leo, Deborah Feldman und andere verlassen den Schriftstellerverein

 11.12.2024

Medien

»Stern«-Reporter Heidemann und die Hitler-Tagebücher

Es war einer der größten Medienskandale: 1983 präsentierte der »Stern« vermeintliche Tagebücher von Adolf Hitler. Kurz darauf stellten die Bände sich als Fälschung heraus. Ihr »Entdecker« ist nun gestorben

von Ann-Kristin Wenzel  10.12.2024

Imanuels Interpreten (2)

Milcho Leviev, der Bossa Nova und die Kommunisten

Der Pianist: »Ich wusste, dass ich Bulgarien verdammt zügig verlassen musste«

von Imanuel Marcus  10.12.2024