Barbara Honigmann

Klar, melancholisch, skeptisch

Barbara Honigmann wurde 1949 in Berlin geboren. Foto: imago images/Tinkeres

Barbara Honigmann

Klar, melancholisch, skeptisch

Die 74-jährige Schriftstellerin erhält den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main

von Thomas Sparr  28.08.2023 08:42 Uhr

Gräber säumen die Prosa von Barbara Honigmann, ob in London, in Wien, in Weimar oder in Berlin, überall dort, wo ihre Angehörigen bestattet sind und im gräberlosen 20. Jahrhundert eine letzte Ruhestätte gefunden haben. In einem ihrer schönsten Texte schildert die 1949 in Berlin (ohne den Zusatz »Ost«) geborene Autorin den Besuch von Gershom und Fania Scholem auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee an einem Dezembertag im Jahr 1981.

Das Ehepaar Honigmann begleitete den berühmten, 84 Jahre zuvor in Berlin geborenen Religionshistoriker und seine Frau auf dem Weg zum Grab des Vaters, Arthur Scholem. Es ist von wild wachsendem Efeu überwuchert, von dem Gerhard (Gershom) Scholem das Grab erst einmal befreite.

panorama Auf wenigen Seiten entfaltet Barbara Honigmann ein Panorama deutsch-jüdischer Geschichte an diesem Ort, in diesem Moment: die dünnen Mäntel der Jerusalemer Gäste, die den deutschen Winter nicht mehr kennen, die Beherztheit, mit der Fania Scholem eine Absperrung auf dem Friedhof kurzerhand aufhebt, ein folgenreiches Gespräch bei einem halbwegs koscheren Mittagessen im Hotel Berolina, als Scholem mit einem Bibelzitat Peter und Barbara Honigmann auffordert: »Wandere aus in ein Land der Torakunde.« Deutschland sei kein Land für Juden.

Nur wenige Wochen später starb Gershom Scholem, der die letzten Monate seines Lebens als Fellow am Wissenschaftskolleg in seiner Heimatstadt verbracht hatte, in Jerusalem. Barbara Honigmann ging später noch einmal, nun allein, auf den Friedhof in Weißensee und besuchte das Grab, auf dem der Name sowie der 5. Dezember 1897 als Geburtsdatum und der 21. Februar 1982 als Todestag angebracht worden waren.

Es ist der letzte Name unter denen der Eltern Arthur und Betty Scholem und den drei Brüdern Gerhards. Reinhold, Erich und Werner. Nur der Vater ist dort tatsächlich bestattet, die Mutter, Reinhold und Erich starben im australischen Exil, Werner Scholem wurde 1940 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet.

Barbara Honigmann blickt den Menschen ins Gesicht, und die Menschen blicken auf.

Barbara Honigmann schreibt: »Die meisten Menschen haben nur ein Grab. Gershom Scholem hat zwei. Eines in Jerusalem und eines in Berlin. Er hatte wohl auch zeit seines Lebens in beiden Städten gelebt. Deshalb hat er ein doppeltes Grab. So ein Leben war das eben.«

FAMILIE Und für Familie Honigmann begann bald darauf ein neues Leben: Sie verließ die DDR und zog nach Straßburg, in eine Stadt der Torakunde, in der die wunderbar unorthodoxe Autorin bis heute das orthodoxe Judentum lebt.

Dort schrieb sie an einem Bistrotisch 1984 »Doppeltes Grab«, freundlich beäugt von drei Arabern am Nebentisch, denen sie erklärt, dass sie »israélite« sei, und auf deren erstaunte Nachfrage, warum sie denn kein Hebräisch spreche, das sei dem Arabischen nahe, antwortet, »weil es in Deutschland so gut wie keine ›israélites‹ mehr gibt, und da fragten sie: ›Warum denn nicht?‹«. Vielleicht ist dies das einfache Geheimnis der Autorin, die auch Malerin ist: Sie blickt den Menschen ins Gesicht, und die Menschen blicken auf. Immer wieder schauen wir in ihren Texten wie auf ihren Bildern in Gesichter, gesammelte, ernste, allenfalls leise lächelnde Gesichter.

Barbara Honigmann beherrscht in all ihren Erzählungen, ihren Romanen wie ihren Essays eine Kürze, die das Komplizierte nicht vereinfacht, aber transparent werden lässt – und sei es nur für einen Moment. Nichts im Leben ist so kompliziert, dass Barbara Honigmann es nicht erzählen könnte.

Die Autorin und ihr Werk werden am 28. August mit dem Goethepreis ausgezeichnet, eine der höchsten Ehrungen, die die Stadt Frankfurt am Main alle drei Jahre an Goethes Geburtstag vergibt. Eine gute und glückliche Entscheidung der Frankfurter Jury. Man muss das eigens hervorheben, weil die Geschichte dieses Preises auf besondere Weise Ruhm und Ruchlosigkeit deutscher Geschichte spiegelt.

PREISTRÄGER Stefan George war 1927 der erste Preisträger. Der Dichter aus dem nahen Bingen lehnte zunächst ab, nahm den Preis schließlich widerstrebend an. Ein Geraune um dichterische Führerschaft umgab die erste Preisverleihung in Frankfurt. Sigmund Freud erhielt die Ehrung – überhaupt die erste zu seinen Lebzeiten – mit knapper Mehrheit der Juroren 1930. Ricarda Huch erhielt die Auszeichnung statt Käthe Kollwitz, bis der Preis schließlich mit der unvermeidlichen Agnes Miegel und heute zum Glück vergessenen Autoren der Bewegung vollkommen nationalsozialistisch vereinnahmt wurde.

Nach dem Krieg, 1949, erhielt den Preis zu Goethes 200. Geburtstag Thomas Mann, in späteren Jahren auch Musiker oder Soziologen wie Raymond Aron und Regisseure, etwa Peter Stein, dem wir bedeutende Goethe-Inszenierungen im Deutschland der Nachkriegszeit verdanken. 1970 bewies die Frankfurter Jury besonderen Mut, als sie Georg Lukács auszeichnete, einen marxistischen Theoretiker, der trotz aller Dogmatik das Genre des Essays neu begründete. Preisträger waren Golo Mann, Marcel Reich-Ranicki, Amos Oz, der 2005 dem erstaunten Auditorium in der Paulskirche vom Frankfurter Zweig seiner Familie erzählen konnte, oder Pina Bausch.

Einmal blamierte sich Frankfurt am Main, als Oberbürgermeister Walter Wallmann am 28. August 1982 Ernst Jünger den Goethepreis überreichte – trotz zahlreicher Proteste im In- und Ausland. Ebenjenem Autor, der den Ersten Weltkrieg verherrlicht und jedes politische System – das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und Nachkriegsdeutschland – schadlos überstanden hatte und sich zum Ende hin als Gegner des Nationalsozialismus stilisierte. Niemand wird die literaturgeschichtliche Bedeutung von Ernst Jüngers Werk leugnen, aber die Verantwortlichen hätten sich fragen müssen, ob dieser Autor einer so hohen Auszeichnung würdig sei.

Es ist eine gute und glückliche Entscheidung der Jury, diese Autorin und ihr Werk zu ehren.

Walter Wallmann war kein Rechter, aber damals nicht recht beraten. Sein Büroleiter zu jener Zeit hieß Alexander Gauland. Eine solche kulturpolitische Taktlosigkeit wäre der späteren Oberbürgermeisterin Petra Roth in ihrer langen Amtszeit nicht unterlaufen. Der Preisträger selbst dankte mit einer kalkrieselnden, substanzlosen Rede vor lichten Reihen in der Paulskirche.

NETZWERK Wir stehen heute erst am Anfang, das Netzwerk jener selbst deklarierten konservativen Revolution zu durchleuchten, das Stiftungen (wie die Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München), Verlage und Zeitschriften in der Bundesrepublik dominierte. Deren Feder führte Armin Mohler, Ernst Jüngers früherer Privatsekretär. Mohler relativierte den Nationalsozialismus und redete dem Faschismus das Wort. Zu dieser Geschichte der Kulturermächtigung von rechts gehört die Preisverleihung an Ernst Jünger im Jahr 1982.

Drei Jahrzehnte zuvor erhielt Martin Buber einen anderen Goethepreis, den Hansischen, zuerkannt, den er 1953 aus der Hand des Getreidekaufmanns Alfred Toepfer in Hamburg empfing. Es hatte wütende Proteste in Israel wie in der jüdischen Welt dagegen gegeben, dass Buber eine solche Auszeichnung annehme, im selben Jahr auch noch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche in Frankfurt. Martin Buber versuchte zu beschwichtigen und stiftete beide Preisgelder für jüdisch-arabische Projekte in Israel. Aber der Einspruch und die Bedenken gegen diesen Goethepreis erwiesen sich als berechtigt.

Martin Buber hat es nicht mehr erlebt, aber Jahrzehnte später offenbarte sich, dass der Stifter Alfred Toepfer dem Nationalsozialismus näher stand als zuvor behauptet. Der Hansische Goethepreis wurde abgeschafft.

echoraum Bei jeder Preisverleihung hallen im historischen Echoraum vorangegangene Vergaben mit. Die Geschichte des Frankfurter Goethepreises spiegelt Ruhm und Ruchlosigkeit, politische Willfährigkeit und Opportunismus ebenso wider wie literarische Freiheit, Mut, Eigensinn und Widerstehen. Ein doppelter Preis.

Barbara Honigmann steht in seiner besten Tradition. In einer einzigen Lebensgeschichte stellt sie ein ganzes Jahrhundert dar, lakonisch, knapp, wie Goethe es liebte, klar, melancholisch, sinnenfroh und skeptisch zugleich. So beglaubigt sie eine häufig zitierte, doch oft vergessene Maxime des großen Dichters aus Wilhelm Meisters Wanderjahren: Leben wird am besten durchs Lebendige gelehrt.

Der Autor ist Literaturwissenschaftler und Editor-at-Large des Suhrkamp Verlags.

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