»Jüdische Almanach«

Kibbuzkinder und Eizellspenden

15 Autoren aus Deutschland, Israel und Nordamerika zeigen auf knapp 180 Seiten, wie facettenreich und unerschöpflich das Thema ist. Foto: PR

»Jüdische Almanach«

Kibbuzkinder und Eizellspenden

Das neue Buch von Gisela Dachs widmet sich dem Thema Familie

von Tobias Kühn  16.10.2017 21:13 Uhr

Sie wärmt das Herz und nervt zugleich, nimmt Anteil, prägt ein Leben lang, gibt Halt – und ist doch absolut distanzlos: die Familie. Im Judentum nimmt sie einen zentralen Platz ein. Man reißt Witze über die Mischpoche und kann doch ohne sie nicht leben. Ihr ist der neue Jüdische Almanach gewidmet.

Das kleine Jahrbuch, das die in Tel Aviv lebende frühere ZEIT-Korrespondentin Gisela Dachs herausgibt, beschäftigt sich jedes Jahr mit einem auf den ersten Blick ganz alltäglichen Thema: Waren es in den vergangenen Jahren »Musik«, »Proteste«, »Liebe« oder »Sport«, steht diesmal die Familie im Fokus. 15 Autoren aus Deutschland, Israel und Nordamerika zeigen auf knapp 180 Seiten, wie facettenreich und unerschöpflich das Thema ist. Bei ihren Texten handelt es sich um wissenschaftliche Aufsätze, journalistische Beiträge, Erzählungen oder Romanauszüge.

Väter Der Reigen, den die Herausgeberin sehr gelungen zusammengestellt hat, beginnt mit dem amerikanischen Kulturanthropologen Jonathan Boyarin. Er liefert einen historischen Rückblick und nähert sich der Frage nach der Zukunft jüdischer Familienformen. Welche Rolle heute die Eltern als Übermittler von Tradition, Wissen und Werten spielen, fragt der Basler Religionshistoriker Alfred Bodenheimer in seinem Beitrag »Enterbte Väter?« – und stellt fest: »Ein Vorteil der postpatriarchalen Epoche kann sein, dass Väter, die ihre familiäre Rolle stärker und weniger hierarchisch wahrnehmen, tatsächlich primär wieder zu Lernenden der Tradition werden.«

Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit dem Thema Familie vor dem Hintergrund der Schoa. Zu den bewegendsten zählt der Aufsatz der amerikanischen Soziologin Diane L. Wolf. Sie geht der Frage nach, wie Familie nach der Schoa »neuformuliert« wurde. Wolf interviewte 70 Frauen und Männer, die in Holland im Versteck bei fremden Familien überlebten. In präziser wissenschaftlicher Sprache, doch sehr berührend, beschreibt sie, was die Kinder damals empfanden: »Die Trennung von den Eltern in so jungen Jahren war für die meisten fast unerträglich.« Manche hätten unentwegt geweint, andere wiederum wurden von ihren Pflegeeltern ins Herz geschlossen und zählen diese Zeit erstaunlicherweise »zu den schönsten Jahren in der ganzen Kindheit«. Dramatisch wurde es, wenn die Kinder nach der Schoa nicht wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren wollten.

Von Trennungen ganz anderer Art berichtet die israelische Autorin Yael Neeman. Sie erzählt von einer Kindheit im Kibbuz. »Wir kamen täglich gegen Abend ins elterliche Haus, eine Stunde und 50 Minuten lang.« Neeman, die selbst in einem Kibbuz aufwuchs, fragt sich, warum man die Kinder von den Eltern trennte. »Die Absicht war, die Kinder aus der Bürgerlichkeit der Familie zu lösen und sie vor ihr zu beschützen.« Doch erreicht wurde in vielen Fällen wohl das Gegenteil. »Die Sehnsucht mancher Kibbuzkinder nach einer Familie, die sie nie gehabt haben, ist wie die Sehnsucht der Diasporajuden nach Jerusalem.«

Leihmutter Von der Sehnsucht eines schwulen Paars nach Kindern erzählt der Journalist Assaf Uni. Die beiden Männer kauften in den USA zehn Eizellen, die von Spenderinnen aus Osteuropa stammten. Dann reisten sie nach Amerika, spendeten Samen und trafen die Leihmutter. Für viel Geld setzten die Ärzte drei Eizellen in die Gebärmutter der Frau ein. Zwei davon nisteten sich ein – von jedem Mann war eine befruchtet worden.

Neun Monate später reisten die beiden Männer abermals nach Amerika, um bei der Geburt der Zwillinge dabei zu sein. »Heute sind die vier eine glückliche Familie in Tel Aviv«, schreibt Uni. Nun, man darf gespannt sein, was diese beiden Kinder wohl eines Tages zum Thema »Familie« beizutragen haben.

Gisela Dachs (Hrsg.): »Familie. Jüdischer Almanach«. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2017, 178 S., 18 €

Premiere

»Übergriffe gegen uns sind mittlerweile Alltag«

Anfeindungen, Behinderungen, Drohungen und Übergriffe: Ein neuer Film dokumentiert die Pressefeindlichkeit bei vielen Pro-Palästina-Demonstrationen in Berlin. Die Journalisten-Union warnt vor den Folgen für die Pressefreiheit hierzulande

von Markus Geiler  28.10.2025

Rotterdam

Unbehagen im Love Lab

Die jüdische Soziologin Eva Illouz ist an der Rotterdamer Erasmus-Universität nicht willkommen. Sie spricht von einer »antisemitischen Entscheidung«, die immerhin demokratisch zustande gekommen sei

von Michael Thaidigsmann  28.10.2025

Berlin

Mascha Kaléko und die Reise ihres Lebens: »Wenn ich eine Wolke wäre«

Elf Jahre nach Kriegsende entdeckte Deutschland seine verlorene Dichterin wieder. Volker Weidermann gelingt ein berührendes Porträt der Lyrikerin

von Sibylle Peine  28.10.2025

Kommentar

Politisches Versagen: Der Israelhasser Benjamin Idriz soll den Thomas-Dehler-Preis erhalten

Wer wie der Imam den 7. Oktober für seine Diffamierung des jüdischen Staates und der jüdischen Gemeinschaft instrumentalisiert, ist eines Preises unwürdig

von Saba Farzan  28.10.2025

Fernsehen

Selbstermächtigung oder Männerfantasie?  

Eine neue Arte-Doku stellt den Skandalroman »Belle de jour« des jüdischen Schriftstellers Joseph Kessel auf den Prüfstand  

von Manfred Riepe  27.10.2025

Stuttgart

»Mitten dabei!«: Jüdische Kulturwochen beginnen

Konzerte, Diskussionen, Lesungen und Begegnungen stehen auf dem vielfältigen Programm

 27.10.2025

Biografie

Vom Suchen und Ankommen

Die Journalistin hat ein Buch über Traumata, Resilienz und jüdische Identität geschrieben. Ein Auszug aus ihrer ungewöhnlichen Entdeckungsreise

von Sarah Cohen-Fantl  26.10.2025

Alina Gromova

»Jedes Museum ist politisch«

Die neue Direktorin des Jüdischen Museums München über ihre Pläne

von Katrin Diehl  26.10.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Herbstkaffee – und auf einmal ist alles so »ejn baʼaja«

von Nicole Dreyfus  26.10.2025