Medien

Im toten Winkel der Feuilletons

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen: deutsche Feuilletonredakteure bei der Arbeit Foto: dpa

Christian Wulff ist abgetreten und gerät schon in Vergessenheit. Christian Krachts Roman Imperium ist gegen den Vorwurf rechtsextremer Sympathien mit großem Tohuwabohu, aber letztlich erfolgreich verteidigt. Vor dem Internet wird nach wie vor intensiv gewarnt. Das Finanzkapital ist für alle übrigen Übel verantwortlich.

Das deutsche Feuilleton hatte in den letzten Monaten eine Menge Erregungen zu verarbeiten. Es ist ja ein einzigartiges Institut: Die eigentliche Debatte in den Zeitungen findet seit Jahrzehnten häufig auf den Kulturseiten statt, anders als in allen anderen Ländern der Welt. Das hat mit der »geschenkten Demokratie« in Deutschland zu tun.

Privileg Die Zeitungslizenzen wurden von den Alliierten nach dem Krieg an einigermaßen unbescholtene Familien erteilt – mit der Auflage, die Deutschen Demokratie zu lehren. Der Schoß war fruchtbar noch, darum dichtete man die Kommentarspalten lieber vor der Öffentlichkeit ab. Und so dürfen in den meisten deutschen Zeitungen bis heute nur einigermaßen abgehangene Redakteure kommentieren. Freie Journalisten genießen dieses Privileg zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung nicht – geschweige denn gesellschaftliche Kräfte.

So schlich sich die gesellschaftliche Debatte im Lauf der Nachkriegszeit ins Feuilleton: Seit dem Historikerstreit ist sie dort zu Hause. Und manche Debatten gehören ja wirklich auf die Kulturseiten: Die Diskussion um den Islam ist immer auch eine kulturelle – man denke nur an die Rushdie-Affäre und den Streit um die Mohammedkarikaturen (die von den meisten Zeitungen allerdings ganz ohne Debatte nicht gedruckt wurden).

Auch die Auseinandersetzung um Sarrazin war eine Sache des Feuilletons: FAZ-Feuilletonchef Patrick Bahners höchstselbst warnte in einem ganzen Buch vor den »Panikmachern« und bekam von seinen Kollegen kräftig Lob.

breivik Da verwundert es nicht, dass auch Anders Breiviks Tat und Manifest in den Feuilletons intensivst analysiert wurden. Breivik, der am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 76 Menschen ermordete, verkörperte einen neuen Typus des Rechtsextremismus, der an islamkritische Diskurse anschloss, nicht mehr in erster Linie antisemitisch war und zum Teil gar – zumindest vordergründig – Werte der Aufklärung für sich reklamierte.

Die Islamophobie, vor der in den Feuilletons so dringlich gewarnt worden war, brachte in Breivik ihren ersten Terroristen hervor. Zwar galt sein Attentat gar nicht in erster Linie Muslimen, sondern einer Institution der offenen Gesellschaft – der Jugendorganisation der norwegischen Sozialdemokraten. Aber das war eben auch eine der Institutionen, die sich für den »Dialog der Kulturen« einsetzt.

Feuilletonchef Jens Jessen erkannte in der »Zeit«, die ebenfalls für diesen Dialog eintritt, folgerichtig, dass er sozusagen selbst ein potenzielles Opfer Breiviks sei. In der »Frankfurter Rundschau« wies Christian Bommarius mit bitterem Triumph auf Henryk Broder, der mit rauem Witz von einer Kapitulation der westlichen Öffentlichkeit vor dem Islamismus gesprochen hatte und auch nicht stets auf die religiösen Gefühle von Muslimen Rücksicht nahm. Breivik, so Bommarius, hatte Broder zitiert.

Das war für Bommarius der Beweis einer Kontinuitätslinie von der Islamkritik zum islamophoben Terror. Zwar stimmt es überhaupt nicht, dass Breivik Broder zitierte: Die Broder-Passagen aus Breiviks Manifest stammen aus Texten eines anderen Bloggers, die Breivik nur seinem Manifest einverleibt hatte. Aber solche Nuancen können in einer Feuilletondebatte nicht immer beachtet werden.

zwickau Eines erstaunt nun: Wie kommt es eigentlich, dass in den Feuilletons nicht annähernd so intensiv über die Zwickauer Nazigruppe diskutiert wurde? War ihre Tat nicht, auf ganz andere Art, ebenso unheimlich und bestürzend wie die Breiviks?

Gewiss, es gab hier und da Artikel. Vor allem wurde gefragt, inwieweit die spezifische Art der Verdrängung in der DDR ein Phänomen wie diesen Jugendnazismus herangezüchtet hatte. Die Trauerfeier für die Opfer der Bande und Angela Merkels Rede wurden gewürdigt. Aber alles in allem lässt sich sagen, dass so etwas wie eine Traumatisierung aus dieser Tat nicht zu verspüren ist. Bei den Zwickauer Nazis gilt die übliche Arbeitsteilung: Dieses Thema wird auf den Politikseiten behandelt. Das Feuilleton scheint nicht so interessiert.

Woran liegt das? Es ist ja nicht so, dass sich die Zwickauer Nazis, anders als Breivik, nicht artikuliert hätten. Es gibt ihr recht professionell gemachtes Video, ein »Mash Up« mit Zitaten aus »Pink Panther«, das eine ganz spezielle Öffentlichkeit herstellt: Es wendet sich nicht an die Allgemeinheit, sondern an einen extrem konspirativen Insiderkreis und feiert mit finsterster Häme, dass man über Jahre hinweg sowohl die absolut blinde und gleichgültige Allgemeinheit als auch die gesammelten Nachrichtendienste der Republik ungestraft austricksen konnte.

Auch V-Männer des Verfassungsschutzes werden sich beim Betrachten dieses heimlich zirkulierenden Videos auf die Schenkel geschlagen haben. Von Behörden gepäppelt, war hier eine Szene herangewachsen, die die Gesellschaft unbemerkt unterhöhlte. Man hat den Eindruck: Die Täter wussten Bescheid, die Angehörigen der Opfer wussten Bescheid – denn sie wussten, wie dumm die Hypothesen der Polizei waren –, nur der Rest der Bevölkerung wollte nichts wissen.

Und die Gesellschaft – nicht nur die Politik und nicht nur die Behörden! – ließ dies mit sich geschehen. Angela Merkel hat für die Regierung um Entschuldigung gebeten. Von einer vergleich- baren Zerknirschung in den Medien war nichts zu spüren. Inzwischen machen investigative Journalisten auf Reportageseiten und in Politikmagazinen hervorragende Arbeit. Aber wären nicht auch ein paar Fragen zu stellen, die gut ins Feuilleton passen?

verdrängung Wie kommt es eigentlich, dass auch die Medien vor der bestürzenden Nachricht keine Sensibilität für den Zusammenhang zwischen den Morden aufbrachten? Warum wurden die Thesen der Behörden einfach nachgebetet? Gab es nicht einmal die Arbeitshypothese Rechtsextremismus? Warum sind so wenige Journalisten auf Rechtsextremismus spezialisiert? Wie genau muss das Umfeld beschaffen sein, das über Jahre hinweg solche Taten möglich macht? Nicht nur das engere, sondern gerade auch das weitere?

Es könnte an mangelnder Empathie mit den Opfern liegen. Anders als Breiviks Tat zielten die Morde der Zwickauer Nazis nicht auf eine Institution dieser Gesellschaft, sondern auf die »anderen«. Die Morde nahmen ein Muster wieder auf, das schon nach dem Mauerfall für verlangsamte Wahrnehmung gesorgt hatte.

Es hatte auch nach Hoyerswerda, Rostock und Solingen monatelang gedauert, bis sich die Zivilgesellschaft zu Lichterketten zusammenschloss. Man hatte sich zunächst nicht zuständig gefühlt. Im Gegenteil: Vor diesen Pogromen hatte es aus den Mündern von Politikern aller Parteien höchst problematische Äußerungen in der Frage der Asylpolitik gegeben. Lange Zeit hatte sich das ganze Boot ziemlich voll gefühlt. Helmut Kohl achtete bis zum Schluss darauf, sich nicht mit den Opfern blicken zu lassen. Erst Richard von Weizsäcker handelte.

reiz-reaktions-schema Die Mordserie der Zwickauer Nazis lief auch deshalb unter der Wahrnehmungsschwelle, weil die Türken auch von großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft – trotz des stets ängstlich beschworenen »Respekts vor dem Islam« – nicht als dazugehörig betrachtet werden. Diese Taten sind die extreme Zuspitzung einer verbreiteten Mentalität.

Daraus wäre zu lernen, dass nicht in erster Linie »der Islam«, sondern die Türken und die Deutschen türkischer Herkunft zu Deutschland gehören. Die Zwickauer Nazis haben ihre Opfer nicht erschossen, weil sie anders an Gott glauben, sondern weil sie schlechterdings andere waren. Auch dies nimmt ein Muster der Pogrome und Morde nach dem Mauerfall auf, die auf alle zielten, die anders waren, Türken, Asylbewerber, Vietnamesen, Schwarze, Behinderte, Obdachlose.

Man muss fürchten, dass die Feuilletons völlig anders reagiert hätten, wenn die Zwickauer Bande in ihrem Video Sarrazin zitiert hätte. Aber die Wirklichkeit folgt nicht immer medialen Reiz-Reaktions-Schemata. Manchmal ist es interessanter zu fragen, wozu die Medien schweigen, als worüber sie reden.

Thierry Chervel ist Herausgeber der Feuilletonrundschau »Perlentaucher«.

www.perlentaucher.de

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