Literatur

Hommage an eine Mutter

Maxim Biller wurde am 25. August 1960 in Prag geboren. Wie der Ich-Erzähler emigrierte er als Kind mit seiner Familie nach Westdeutschland. Foto: picture alliance/dpa

Wenige Wochen nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine, ließ Maxim Biller in der Wochenzeitung »Die Zeit« wissen, er höre auf zu schreiben. »Ich will kein Schriftsteller mehr sein, ich will nie wieder einen Roman oder ein Buch mit Erzählungen veröffentlichen.« Er sehe keinen Sinn darin, »aus Wirklichkeit Fiktion zu machen, die hinterher in die Wirklichkeit zurückkehrt«.

Jetzt hat er doch einen weiteren Roman geschrieben, einen Familienroman: Mama Odessa. So nennen die Einwohner liebevoll ihre Stadt am Schwarzen Meer – eine Stadt, die von Putins Drohnen und Raketen immer wieder angegriffen wird. Als der in Prag geborene Biller 2020 mit seiner Freundin das erste Mal in Odessa war, muss ihnen die Stadt sehr gefallen haben. Die beiden beschlossen, bis zu ihrem Lebensende jeden Sommer dort zu verbringen.

BEZIEHUNG Maxim Billers Buch trägt zwar Odessa im Titel – und er hat es zu einem gewissen Teil auch dort angesiedelt –, aber es ist vor allem eine Hommage an seine Mutter: die Geschichte der Beziehung zwischen einem Sohn, der Schriftsteller ist, und seiner Mutter, die ebenfalls schreibt. Billers eigene Mutter ist vor vier Jahren gestorben; möglicherweise verarbeitet er mit diesem Buch ihren Tod.

Im Frühjahr 1971 verlassen Aljona, Gena und Mischa Grinbaum ihre Heimatstadt Odessa.

Der Ich-Erzähler Mischa, ein Schriftsteller, findet, nachdem seine Mutter gestorben ist, in ihrem Sekretär Briefe, die sie ihm geschrieben hat, aber nie zur Post brachte. Er entdeckt auch Kurzgeschichten der Mutter, die bisher nicht gedruckt wurden. Einige davon baut Biller in seinen Roman ein. Die Mutter hat Ereignisse aus ihrem und dem Leben der Familie zu Erzählungen verarbeitet. Als der Sohn sie liest, werden Erinnerungen wach.

parallele Im Frühjahr 1971 verlassen Aljona Grinbaum und ihr Mann Gena mit ihrem Sohn Mischa ihre Heimatstadt Odessa (in derselben Zeit ging die Familie Biller aus Prag weg). Es verschlägt sie nach Hamburg (eine weitere biografische Parallele) – wo sie eigentlich nicht hinwollen. Der Vater träumt weiter von der Alija und wünscht sich nach Tel Aviv oder Jerusalem; die Mutter klagt: »Wir hätten in Odessa bleiben sollen« und schimpft über den »Zionisten-Unsinn« und das »Israel-Gefasel« ihres Mannes, nur seinetwegen seien sie in »diesem verdammten Deutschland« gelandet.

Mitte der 60er-Jahre hatte der Vater zusammen mit anderen jungen Männern am Stadtrand von Odessa gegen einen Gedenkstein demonstriert. Dieser erinnert an ein Massaker, das 1941 Deutsche und Rumänen verübten. Die Behörden hatten darauf schreiben lassen, dass an dieser Stelle »25.000 Sowjetbürger von den nazistischen Bestien« umgebracht worden seien. »Es waren keine Sowjetbürger, es waren Juden!«, schrien die jungen Männer – und wurden von der Miliz zusammengeschlagen. »Mein Vater war der Einzige, der es schaffte, mit blutüberströmtem Gesicht (…) wegzulaufen. Alle anderen bekamen zwischen zwei und fünf Jahren Lager.«

Aljona Grinbaum wird in diesen Jahren Opfer eines KGB-Giftanschlags, der offenbar ihrem Mann galt und ihn schleichend töten sollte. Doch Gena Grinbaum, mit dem Leben davongekommen, lässt sich nicht einschüchtern, sondern gründet eine zionistische Diskussionsgruppe, organisiert die Besetzung der Kommunistischen Parteizentrale von Odessa und begibt sich »zusammen mit seinen Jungisraeliten« in den »längsten Hungerstreik aller Zeiten (…), sollte man ihnen nicht erlauben, nach Israel auszureisen«.

Man lässt sie gehen. Aber nicht nach Israel, sondern nach Deutschland. Ins »Land der Nazis«. Wo sich der Vater nach einigen Jahren trennt und mit einer, wie die Mutter sie nennt, »Nazi-Hure« zusammenzieht. So wird Mischas Bindung zu ihm im Laufe der Zeit immer loser, die zur Mutter hingegen immer enger.

ZEITEBENEN Meisterhaft verwebt Biller Zeitebenen und Erzählstränge, springt zwischen den Orten und Jahrzehnten hin und her. Mit wenigen Worten gelingt es ihm, Menschen und Situationen zu beschreiben. Pointiert, in einer einfachen, aber kraftvollen Sprache stellt er die Pro­tagonisten dar und zeigt dem Leser im Verlauf des Buches zunehmend Brüche in ihren Seelen – auch in der des Ich-Erzählers. Ja, vielleicht ist dies Maxim Billers persönlichstes Buch.

Der Ich-Erzähler findet nach dem Tod der Mutter Briefe an ihn, die sie nie abschickte.

Auch wenn Mischa seiner Mutter nahestand und berührend über sie erzählt, singt er kein Hohelied der Liebe und verfängt sich nicht im kitschigen Bild der jüdischen Mamme. Nein, er ist nicht blind. Er zeichnet ein glaubwürdiges, ehrliches Bild von ihr. War er als Erwachsener krank, sagte sie nie: »›Soll ich kommen?‹ Sie sagte immer nur: ›Ich würde dir so gern helfen, wenn ich nur irgendwie könnte!‹«

überforderung Und wenn sie feststellte, sie sei, als er Kind war, »sehr stolz auf ihn gewesen, weil er immer alles allein geschafft hätte«, dann meinte sie damit: »Ganz ehrlich, ich war froh, dass du endlich aus dem Haus warst und nach München gegangen bist. Ich war als junge Frau sowieso schon von meinem eigenen Leben überfordert. Und dann musste ich mich auch noch stundenlang um dich kümmern.«

Dies habe ihn traurig gemacht, schreibt Mischa. Doch es berührte ihn, wenn die Mutter über seinen Weltschmerz seufzte und ausstieß: »Warum habe ich dich nicht ein bisschen fröhlicher geboren?« Die Mutter, an die sich der Ich-Erzähler erinnert, war aber auch ehrlich zu sich selbst, sie gab nicht vor, sich für ihren Sohn aufzuopfern. So beendet sie einen ihrer Briefe an den Sohn: »Ich küsse dich ganz fest! Deine schlechte Mutter.« Doch hat sie auch diesen Brief nie abgeschickt – sodass ihn der Sohn erst nach ihrem Tod liest.

Das letzte Kapitel von Mama Odessa ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorjan gewidmet, dem armenischen Großvater des Ich-Erzählers. Er war dem Massaker 1941 wie durch ein Wunder entgangen. »Ich durfte meinem großen, starken, glatzköpfigen Großvater immer beim Malen zusehen – er wusste sowieso nicht, was er sonst mit mir anfangen sollte –, und manchmal ließ er mich sogar ein paar Striche mit seinem Pinsel machen. Dabei rief er jedes Mal auf Russisch: ›Großartig, mein kleiner Prachtkerl! Du hast wirklich Talent. Aber leider nicht fürs Malen.‹«

Maxim Biller hat einen berührenden Roman geschrieben, zart und rabiat, voller Wärme und Vitalität.

Doch der Großvater sah, dass Mischa das Talent hat, ein großer Schriftsteller zu werden – »das würde sogar ein Kalmücke erkennen, der gerade von seinem eigenen Schnaps blind geworden ist«. Deshalb schrieb er ihm, als er noch ein Kind war, in einem Brief: »Lass dich nie von deinem langen, schweren Weg abbringen, den du selbst noch nicht kennst.«

Maxim Biller hat einen berührenden Roman geschrieben, zart und rabiat, voller Wärme und Vitalität. Wie gut, dass er sich zu diesem Buch durchgerungen hat! Man kann ihm nur wünschen, dass Mama Odessa ein Erfolg wird – und uns Lesern, dass dies nicht sein letztes Buch war.

Maxim Biller: »Mama Odessa«. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 233 S., 24 €

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