Kindertransport

Historischer Fund

Jüdische Mädchen aus Hamburg, die vor den Nazis nach Großbritannien geflohen sind, nach ihrer Ankunft im Bahnhof Waterloo Station in London (30. Dezember 1938) Foto: ullstein bild - Süddeutsche Zeitung

Dank des sogenannten Kindertransports, der nach dem Novemberpogrom 1938 begann, konnten fast 10.000 jüdische Kinder dem Machtbereich der Nazis entkommen. Die meisten von ihnen gelangten nach Großbritannien. Zu der Organisation des Kindertransports ist viel geforscht und geschrieben worden. Bislang aber war man davon ausgegangen, dass – auch wenn man über die Anzahl der Kinder, die aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen geflüchtet sind, viel wusste – nur einige Transportlisten in den Archiven aufzufinden waren.

Nun hat die englische Historikerin Amy Williams in den Beständen der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel fast die gesamten Transportlisten der einzelnen Kindertransporte, deren Route über Holland nach England verlief, entdeckt. Diese Listen wurden von dem niederländischen Kinder-Komitee an die Grenzbehörden in Holland geschickt, um sie so über die bevorstehende Ankunft der Züge zu informieren. Die Kinder sind von Deutschland aus zumeist über Oldenzaal oder Zevenaar nach Hoek van Holland gereist, von wo aus sie mit dem Schiff nach Harwich in England gebracht wurden.

Die Transportlisten sind sehr detailliert. So werden darin nicht nur die Namen der Kinder genannt, sondern ebenfalls ihr Geburtsdatum, oftmals auch der Geburtsort, ihr Wohnort vor der Ausreise und der Zielort in Großbritannien selbst. Bei den einzelnen Namen steht fast immer die laufende Kindertransportnummer – auch bei den Kindern aus der Tschechoslowakei, die dank des Einsatzes von Sir Nicholas Winton, von dessen Leben der Film One Life erzählt, gerettet wurden.

Auch die Namen der Begleitpersonen werden aufgelistet

Anders als in der Forschung oftmals vermutet, waren die Winton-Transporte also durchaus ein Teil der eigentlichen Kindertransport-Aktion. Auch die Namen der Begleitpersonen werden aufgelistet. In der Historiografie hieß es, sie hätten nur unter der Bedingung mitfahren dürfen, dass sie auch wieder zurückkehren. Die Listen der Betreuer aber machen deutlich, dass einige durchaus die Absicht hatten, in England zu bleiben.

So hat der Kindertransport auch manche Erwachsene in Sicherheit gebracht. Einer von ihnen war Felix Reich, Leiter der Israelitischen Taubstummen-Anstalt in Berlin, der am 18. Juli 1939 einen solchen Kindertransport begleitet hatte. Er rettete damit nicht nur Anstaltsschülerinnen und -schüler wie Anne und Horst Marschner, sondern auch sich selbst.

Der Kindertransport hat auch manche Erwachsene in Sicherheit gebracht.

Dora Silbermann aber, die diesen Transport ebenfalls begleitet hatte, war nach Berlin zurückgekehrt, wo sie als Leiterin der Jugendfürsorge beim Jüdischen Wohlfahrts- und Jugendamt arbeitete. Im November 1942 wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Norbert Wollheim, der in Berlin für die Reichsvertretung der Juden maßgeblich an der Durchführung der Kindertransporte beteiligt war, hatte sogar gleich mehrere davon begleitet. Er hat Auschwitz überlebt.

Die Züge nach Hoek van Holland brachten Kinder aus dem gesamten Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten. Es fuhren Züge von Prag aus, vor allem aber von Berlin und Wien. Kinder stiegen in Frankfurt, München, Köln, Hamburg und anderen Städten zu. Zusätzlich zu den Listen, die Amy Williams in Yad Vashem gefunden hat, konnte sie weitere aus amerikanischen und englischen Archiven heranziehen, um so ein umfassenderes Bild zu bekommen.

Im Leo-Baeck-Archiv in New York lagern Akten zu den Kindertransporten aus Danzig

Im Leo-Baeck-Archiv in New York beispielsweise lagern Akten zu den Kindertransporten aus Danzig. Eines der Kinder von dort war der spätere israelische Bildhauer Frank Meisler. Die dreitägige Eisenbahnfahrt nach Holland brachte ihn über Berlin-Friedrichstraße. Dort steht heute das von ihm geschaffene Erinnerungsdenkmal an den Kindertransport, das gleichzeitig des traurigen Schicksals der Kinder gedenkt, die mit Zügen in die Vernichtungslager deportiert wurden.

Nachdem Williams auf der Facebook-Seite »Kindertransport Dialogue« von ihrem Fund berichtet hatte, wurde sie von Familien kontaktiert, die wissen wollten, ob die Namen ihrer Eltern oder Großeltern auf einer der Listen stünden. Tatsächlich konnte sie zahlreiche Personen nennen. Die Listen sind für Historiker von großer Relevanz, aber noch wichtiger sind sie für die Nachkommen dieser Kinder, die so zum ersten Mal erfahren, wann genau und mit welchem Zug ihre Vorfahren gereist sind und wer noch mit dabei war.

In einem Fall wusste eine Tochter überhaupt nicht, dass ihr Vater auf einem solchen Kindertransport war. Dank der Listen können spätere Generationen nun auch lernen, wo genau, also an welcher Adresse, ihre Eltern oder Großeltern in Deutschland gelebt haben, bevor sie nach England gebracht wurden. Sie können auf Spurensuche gehen, vielleicht auch intensiver nachempfinden, was der Verlust der Heimat und die Reise ins Unbekannte bedeuteten. Einige der »Kinder« leben heute noch.

Eines davon ist Hanna Zack Miley. Sie lebt in Arizona und ist inzwischen 92 Jahre alt. Gerade wird in Amerika ein Film über ihr Leben gedreht. Hanna war sieben Jahre alt, als sie am 24. Juli 1939 von Köln aus mit einem Kindertransport nach England kam. Mit wem sie gereist ist, wusste sie bis vor Kurzem nicht. Jetzt erfuhr sie, dass fast 60 Kinder mit ihr gefahren sind. Auch Doris Aronowitz, kaum ein Jahr älter als Hanna, befand sich auf diesem Kindertransport. Sie starb 1992. Ihre Söhne Richard Aronowitz-Mercer und Chris Mercer leben heute in England.

Die Listen sind für die Nachkommen der Kinder bedeutend – sie erzählen Familiengeschichte.

Amy Williams hat ein Zoom-Gespräch organisiert. Was es Richard und Chris bedeutet hat, mit Hanna zu reden, kann man sich vorstellen. Hanna sprach von der Depression, die dann einsetzt, wenn man von seinen Wurzeln abgeschnitten wird. Ihren Namen auf der Liste zu sehen, habe ihr aber geholfen, die Verbindung zu genau diesen Wurzeln wiederherzustellen.

Einige Listen beinhalten aber nur Namen von Kindern, bei denen das Endziel der Reise erst einmal Holland lautete und nicht Großbritannien. Das ist bei dem großen Holland-Transport vom 4. Januar 1939 der Fall.

Ruth Fanny Hanover starb in Sobibor

Von den 250 Kindern im Zug sind viele von ihnen nach dem Einmarsch der Deutschen deportiert worden. Eine von ihnen war Ruth Fanny Hanover, die aufgrund einer Behinderung kein Visum für Palästina bekam und in Sobibor starb. Ihr Jugendfreund, der spätere israelische Dichter Jehuda Amichai, widmete ihr das Gedicht »Kleine Ruth«, das mit den traurigen Worten anfängt: »Manchmal überfällt mich die Erinnerung an dich, kleine Ruth. Wir trennten uns in der fernen Kindheit, sie verbrannten dich in einem der Lager«.

Edgar Lax aus Berlin saß ebenfalls in diesem Zug. Er konnte später nach England entkommen. Sein Sohn Bobby Lax wuchs dort auf, wurde Filmregisseur und zog später nach Israel. In seinem Dokumentarfilm Back in Berlin (2021) geht es um die Geschichte seines Vaters. Damals wusste er aber nichts von der Existenz der Listen.

»Dass ich diese Originaldokumente jetzt gesehen habe, ist für mich Teil eines Prozesses, wodurch ich besser verstehen und einschätzen kann, was mein Vater und all die anderen tapferen Kinder damals durchmachen mussten«, sagt der Regisseur. Auch fand er lobende Worte für den Mut der Frauen und Männer, die den Kindertransport organisierten. Ohne sie wären wahrscheinlich fast alle von ihnen im Holocaust umgekommen.

Der Autor arbeitet zusammen mit Amy Williams an einer transnationalen Geschichte des Kindertransportes, die 2026 bei Yale University Press erscheint.

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