Kolumne

Hoffnung als portatives Vaterland

Foto: Ayala Goldmann

Kolumne

Hoffnung als portatives Vaterland

Ein Trost trotz Krieg und viel zu vielen Toten: Mitten in Stockholm spielt ein mutiger Musiker die Hatikwa, die israelische Nationalhymne

von Ayala Goldmann  05.09.2025 11:16 Uhr

Vor zwei Jahren und vielen Monaten. Fünf Uhr morgens, ich wache auf, ein hebräischer Satz fällt mir ein, unvermittelt: »Awda Tikwateinu – Unsere Hoffnung ist verloren«. Ein verkürztes Zitat aus der »Hatikwa«. Die ganze Zeile lautet: »Od lo Awda Tikwateinu – Noch ist unsere Hoffnung nicht verloren.«

Es ist der 4. Januar 2023. Ich bin hoffnungslos und weiß sofort wieder, warum. Am Tag davor hat Ita­mar Ben-Gvir, Polizeiminister der neuen israelischen Regierung, den Tempelberg in Jerusalem besucht. Nicht nur ein Besuch eines Juden an einer heiligen Stätte. Sondern eines der Signale von Unheil, die mich um den Schlaf bringen.

Aber ist es nicht besser, der Hoffnung nachzuspüren? Die Hatikwa, Israels Nationalhymne, kehrt einen Vers aus der Bibel um, dem Buch, das Juden laut Heinrich Heine »im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten«.

Vision des Propheten Jecheskiel

Beim Propheten Jecheskiel 37,11 heißt es: »Unsere Beine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns.« Jecheskiel entwickelt eine Vision, in der die Toten wiederauferstehen und ins Land Israel zurückkehren: »Ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin.« (37,14)

Die Hatikwa kehrt einen Vers aus der Bibel um, dem Buch, das Juden laut Heinrich Heine »im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten«.

Eine neuere, säkulare Vision beschwört der Text der israelischen Nationalhymne: »die Hoffnung, ein freies Volk zu sein in unserem Lande«. Doch steht diese Zeile nicht in der ursprünglichen Fassung des zehnstrophigen Gedichts »Tikwateinu« (»Unsere Hoffnung«) von Naphtali Herz Imber, auf dessen Text die moderne Hymne beruht.

Imber war ein galizischer Jude, der 1882 als Sekretär eines evangelikalen Christen nach Palästina übersiedelte, bevor er 1888 nach Europa zurückkehrte und später verarmt in den USA starb. Er dichtet über die »uralte Hoffnung, ins Land unserer Väter zurückzukehren, in die Stadt, wo David sein Lager errichtet hat«.

Anfang August 2025. Ein Massaker, 22 Kriegsmonate und viel zu viele Tote später. Welche Vision passt, die von Imber oder die der Hymne? Kann ein Volk frei sein, dessen Nachbarn es nicht sind? Kann ein Besatzer frei sein? Will ich ins »Land unserer Väter« zurückkehren? Oder, wie Imber in seinem Gedicht von 1878, die Hoffnung von Europa aus beschwören?

Wo sind wir noch zu Hause?

Meine israelische Freundin lädt uns nach Schweden ins Sommerhaus ihrer Mutter ein. Für den Urlaub gibt es eine klare Ansage: »Wir reden nicht über diese Dinge.« Wir schwimmen im See und pflücken wilde Himbeeren, die zwischen Brennnesseln wachsen. Wir schlafen in einer Hütte im Wald und sind glücklich.

Aber nachts träume ich von schwarzen Wellen, die von Land- und Meerseite über Gaza und Israel zusammenschlagen. Zwei haushohe, bedrohliche Wellen, denen wir nicht entrinnen. Eine Bekannte will diesen Sommer keine Israelis treffen. Wo sind wir noch zu Hause?

Nachts träume ich von schwarzen Wellen, die über Gaza und Israel zusammenschlagen. Kann ein Volk frei sein, dessen Nachbarn es nicht sind? Kann ein Besatzer frei sein?

13. August 2025. In der Innenstadt von Stockholm, nicht weit weg von der alten Synagoge, spielt ein älterer Mann auf einer Trompete. Der Musiker trägt Kopfhörer. Nichts und niemand kann ihn ablenken, weder Verkehr noch Menschen. Doch keiner reagiert, er wird nicht gestört oder beschimpft.

Erkennen sie das Lied denn nicht? Mitten auf dem Platz spielt der mutige Mann eine Melodie, die mir das Herz aufgehen lässt. Die mich an Bedrich Smetana erinnert und an meinen Vater, der als Kind aus Berlin nach Palästina kam, in Israel eine Heimat fand und später nach Deutschland zurückkehrte. Mein Vater liebte »Die Moldau«. Ich höre die Hatikwa in Stockholm und weiß, wo ich zu Hause bin. Als portatives Vaterland bleibt mir die Hoffnung.

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