Philosophie

Hannah Arendt und die Freiheit des Denkens

Die Philosophin Hannah Arendt starb am 4. Dezember 1975 an einem Herzinfarkt. Foto: IMAGO/Bridgeman Images

Philosophie

Hannah Arendt und die Freiheit des Denkens

Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren ihr Lebensthema. Sie sah ihre Aufgabe als politische Denkerin darin, die Welt und die Menschen zu verstehen. Die politische Theoretikerin starb vor 50 Jahren

von Jürgen Prause  20.11.2025 18:04 Uhr

Wer von der »Banalität des Bösen« spricht, zitiert damit - oft ohne es zu wissen - die große Denkerin Hannah Arendt (1906-1975). Die jüdische Intellektuelle war eine einflussreiche Autorin, scharfsinnige Beobachterin und streitbare Zeitgenossin. Auch 50 Jahre nach ihrem Tod ist sie im öffentlichen Diskurs präsent, ihre Schriften werden nach wie vor gelesen und zitiert. Am 4. Dezember 1975 starb sie im Alter von 69 Jahren in New York an einem Herzinfarkt.

Als junge Frau musste sie 1933 vor den Nationalsozialisten flüchten und ihre deutsche Heimat verlassen. Die Auseinandersetzung mit dem Wesen der totalitären Diktatur ließ sie nicht mehr los. Sie war überzeugt: »Der Totalitarismus vergiftet die Gesellschaft bis ins Mark.« Im amerikanischen Exil wurde sie zu einer der wichtigsten politischen Theoretikerinnen des 20. Jahrhunderts, dessen politische Umwälzungen ihren Lebensweg prägten. Bis zur Einbürgerung in den USA 1951 war sie staatenlos.

»Ein Leben zwischen Politik und Philosophie«

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und in Königsberg aufgewachsen, führte »ein Leben zwischen Politik und Philosophie«, wie Annette Vowinckel schreibt. Die Historikerin sieht in Arendt eine »Kronzeugin für das ganze 20. Jahrhundert«. Schon als Schülerin interessierte diese sich für Philosophie. Mit 14 Jahren las sie Werke von Immanuel Kant aus dem elterlichen Bücherschrank.

Nach dem Abitur nahm sie in Marburg das Studium der Philosophie, evangelischen Theologie und altgriechischen Philologie auf. Sie war 18, als sie eine kurze Liebesbeziehung mit ihrem 17 Jahre älteren Professor Martin Heidegger (1889-1976) einging. In Heidelberg wurde sie später bei Karl Jaspers (1883-1969) mit einer Arbeit über den »Liebesbegriff bei Augustin« promoviert.

Dass sie aus einem assimilierten jüdischen Elternhaus kam, spielte in ihrer Kindheit kaum eine Rolle. »Das Wort ‚Jude‘ ist bei uns nie gefallen, als ich ein kleines Kind war«, berichtete Arendt 1964 in einem Interview. Der Vater war früh gestorben, die Mutter sei »gänzlich areligiös« gewesen. Über ihre jüdische Herkunft sei sie erst durch antisemitische Bemerkungen von anderen Kindern auf der Straße »aufgeklärt« worden.

Wie ein Blick in den Abgrund

Von der massenhaften, fabrikmäßigen Ermordung der Juden in Auschwitz erfuhr die von den Nationalsozialisten ausgebürgerte Emigrantin 1943 in New York, wo sie seit 1941 mit ihrem zweiten Ehemann lebte, dem Philosophiedozenten Heinrich Blücher. Sie reagierte zunächst ungläubig: »Das war wirklich, als ob sich der Abgrund öffnet.«

Lesen Sie auch

Arendt suchte nach wissenschaftlichen Erklärungen für die auf Ideologie und Terror basierenden totalitären Herrschaftssysteme. 1951 erschien in den USA ihr Buch »Origins of Totalitarianism«, das sie international bekannt machte. Die deutsche Ausgabe kam 1955 mit dem Titel »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« heraus.

Sie fasste unter dem Begriff »Totalitarismus« das NS-Regime und den Stalinismus in der Sowjetunion zusammen. Die »konsequenteste Institution totaler Herrschaft« sah sie in den NS-Konzentrationslagern - den »Vernichtungsfabriken«, in denen Millionen Menschen ermordet wurden.

Eichmann: Mittelmaß und Gedankenlosigkeit

Im Jahr 1961 erhielt Arendt Gelegenheit, einen der Hauptverantwortlichen für die Organisation des Holocaust aus der Nähe zu erleben. Der in Argentinien untergetauchte ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann war dort vom israelischen Geheimdienst entführt worden und wurde in Jerusalem vor Gericht gestellt. Der Schreibtischtäter sei einer der »größten Verbrecher seiner Zeit«, zugleich aber von Mittelmäßigkeit und Gedankenlosigkeit geprägt, schrieb Arendt in ihrem Prozessbericht.

Mit ihrem Buch »Eichmann in Jerusalem« (1963), dessen Untertitel »Ein Bericht von der Banalität des Bösen« zum geflügelten Wort wurde, löste sie eine Kontroverse aus. Kritiker sahen darin eine Verharmlosung des NS-Täters, was aber nicht der Intention der Autorin entsprach.

In den USA konnte Arendt die akademische Karriere nachholen, die ihr in Nazi-Deutschland verwehrt worden war. Sie lehrte als Professorin unter anderem an Universitäten in Chicago und New York.

Mehrfach besuchte sie nach dem Zweiten Weltkrieg auch wieder Deutschland. 1959 nahm sie in Hamburg den Lessing-Preis entgegen. In ihrer Dankesrede sprach sie über die verbreitete Neigung der Deutschen, »so zu tun, als habe es die Jahre von 1933 bis 1945 gar nicht gegeben«.

»Denken ohne Geländer«

Auch wenn Arendt während des Kalten Krieges das Etikett der Antikommunistin anhaftete, war sie eine unabhängige Denkerin. Sie fühlte sich keinem Lager und keiner Schule zugehörig. »Denken ohne Geländer« nannte sie das einmal. Manche ihrer Analysen wirken erstaunlich aktuell und werden immer wieder von Experten zitiert, »als seien ihre Überlegungen für unsere Gegenwart geschrieben«, wie der Ideenhistoriker Thomas Meyer anmerkt.

Meyer würdigt die Ausnahmestellung der politischen Theoretikerin und Publizistin im Wissenschaftsbetrieb: »Hannah Arendt ist bis heute die einzige Frau, die neben unzähligen Männern weltweit als Referenz in der Politikwissenschaft und politischen Philosophie anerkannt wird.« Arendt selbst sagte dazu 1964 in einem TV-Interview mit dem Journalisten Günter Gaus: »Sehen Sie, ich habe einfach gemacht, was ich gern machen wollte.«

Kulturkolumne

Was bleibt von uns?

Lernen von John Oglander

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025

Hollywood

Scarlett Johansson macht bei »Exorzist«-Verfilmung mit

Sie mimte die Marvel-Heldin »Black Widow« und nahm es in »Jurassic World: Die Wiedergeburt« mit Dinos auf. Nun lässt sich Scarlett Johansson auf den vielleicht düstersten Filmstoff ihrer Laufbahn ein

 25.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  24.11.2025

Nachruf

Das unvergessliche Gesicht des Udo Kier

Er ritt im Weltall auf einem T-Rex, spielte für Warhol Dracula und prägte mit einem einzigen Blick ganze Filme. Udo Kier, Meister der Nebenrolle und Arthouse-Legende, ist tot. In seinem letzten Film, dem Thriller »The Secret Agent«, verkörpert er einen deutschen Juden

von Christina Tscharnke, Lisa Forster  24.11.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Nürnberg

»Tribunal 45«: Ein interaktives Spiel über die Nürnberger Prozesse

Darf man die Nürnberger Prozesse als Computerspiel aufarbeiten? Dieses Spiel lässt User in die Rolle der französischen Juristin Aline Chalufour schlüpfen und bietet eine neue Perspektive auf die Geschichte

von Steffen Grimberg  24.11.2025