Film

Gestatten, Doktor Freud

Pferdekutschen klappern über sandige Straßen, nach Amerika fährt man mit dem Dampfschiff, und die Post kommt achtmal am Tag. Die Herren tragen Bärte und Zylinder, die Damen enge Korsetts, sind aber gern bereit, sie aufzuschnüren und sich den Herren gar nicht so damenhaft hinzugeben.

In seinem Film Eine dunkle Begierde (Originaltitel A Dangerous Method), der diese Woche in die Kinos kommt, nimmt der kanadische Regisseur David Cronenberg seine Zuschauer mit ins Wien der Jahre kurz nach der Jahrhundertwende, als Sigmund Freud das Unbewusste entdeckte und die Psychoanalyse erfand. Cronenberg erzählt von jener Zeit zwischen 1904 und 1914, als Freud öffentlich heftig angegriffen wurde und seine »Bewegung« erst zu formen begann.

rivalität Der 1856 geborene Freud (Viggo Mortensen) sieht in dem eine Generation jüngeren Carl Gustav Jung (Michael Fassbender) einen potenziellen Nachfolger und will ihn näher an die eigene Arbeit heranführen. Doch aus dem anfänglichen Vater-Sohn-Verhältnis wird binnen weniger Jahre tiefe Eifersucht und Rivalität. Der Rationalist Freud wirft Jung, der sich auch mit Telepathie und Parapsychologie beschäftigte, »Mystizismus« und »Schamanismus« vor.

Doch das Zerwürfnis hat noch tiefere Ursachen. »Es gibt ein Problem: Hier in Wien sind nahezu alle Psychoanalytiker Juden.« »Ich sehe nicht, wo hier das Problem liegen soll.« »Eine exquisit protestantische Antwort.« Dieser kurze – historisch überlieferte – Dialog zwischen Freud und Jung ist eine der zentralen Stellen in Cronenbergs Film. Freuds Bewusstsein vom Antisemitismus seiner Zeit wird hier deutlich, ebenso Jungs politische Blindheit. Der Film zeigt auch, wie Freud sich mit den Jahren zunehmend mit seinem Judentum identifizierte – nicht ohne eine Prise Arroganz: »Ihr Traum von einer mystischen Vereinigung mit dem blonden Siegfried ist zur Verdammung verurteilt.

Hören Sie auf, von dem Arier zu träumen. Wir sind Juden«, sagt Freud in einer zweiten zentralen Szene zu Sabina Spielrein (Keira Knightley), der dritten Hauptfigur des Films. Spielrein, eine 1885 geborene russische Jüdin, kam 1904 als Hysterie-Patientin zu Jung, wurde von ihm behandelt – und seine Geliebte. Später brach die Beziehung, die junge Frau wechselte zu Freud. Ihre Affäre mit Jung wurde zum Auslöser für Freuds Diktum, ein angehender Analytiker müsse zuerst eine eigene Psychoanalyse durchlaufen. Später wurde Spielrein selbst Psychoanalytikerin. Sie forschte über »Sex als destruktive Macht«.

charisma Obwohl Eine dunkle Begierde kein Dokudrama ist, wird die Epoche bis in kleinste Einzelheiten rekonstruiert, etwa die Einrichtung von Freuds Arbeitszimmer. Cronenberg gelingt es auch, das Charisma des Psychoanalytikers einzufangen. Daneben hat der Film freilich noch eine andere, etwas versteckte Pointe: Zwar ist der Film ein Historiendrama.

Zugleich aber drängt sich der Gedanke auf, dass die Jahre, von denen er erzählt, unserer eigenen Gegenwart gar nicht so unähnlich sind: Auch wir erleben eine Zeit voller Chancen und wissenschaftlicher Errungenschaften, von Reichtum und hohem zivilisatorischen Niveau, in der trotzdem die Unsicherheit zunimmt, das allgemeine Gewittergrollen am Horizont nicht zu überhören ist. Die scheinbar ewig friedliche milde Zeit, in der dieser Film spielt, war schneller zu Ende, als die Zeitgenossen es sich träumen ließen. Es folgten 1914, 1918, 1933 und 1945. Kaum einer hätte sich 1913 die kommenden Zivilisationsbrüche vorstellen können – auch nicht Sigmund Freud.

Kulturkolumne

Was bleibt von uns?

Lernen von John Oglander

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025

Hollywood

Scarlett Johansson macht bei »Exorzist«-Verfilmung mit

Sie mimte die Marvel-Heldin »Black Widow« und nahm es in »Jurassic World: Die Wiedergeburt« mit Dinos auf. Nun lässt sich Scarlett Johansson auf den vielleicht düstersten Filmstoff ihrer Laufbahn ein

 25.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  24.11.2025

Nachruf

Das unvergessliche Gesicht des Udo Kier

Er ritt im Weltall auf einem T-Rex, spielte für Warhol Dracula und prägte mit einem einzigen Blick ganze Filme. Udo Kier, Meister der Nebenrolle und Arthouse-Legende, ist tot. In seinem letzten Film, dem Thriller »The Secret Agent«, verkörpert er einen deutschen Juden

von Christina Tscharnke, Lisa Forster  24.11.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Nürnberg

»Tribunal 45«: Ein interaktives Spiel über die Nürnberger Prozesse

Darf man die Nürnberger Prozesse als Computerspiel aufarbeiten? Dieses Spiel lässt User in die Rolle der französischen Juristin Aline Chalufour schlüpfen und bietet eine neue Perspektive auf die Geschichte

von Steffen Grimberg  24.11.2025