Zeitgeschehen

Gesetz und Volksempfinden

NS-Richter Roland Freisler (r.) Foto: dpa

Als sich nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes nachdenkliche Juristen fragten, wie es möglich war, dass so viele Richter, Staatsanwälte und Professoren der Rechtswissenschaft sich in den Dienst des staatlich organisierten Unrechts gestellt hatten, gab Gustav Radbruch, einer der führenden deutschen Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts, die Antwort: »Der Positivismus hat mit seiner Überzeugung ›Gesetz ist Gesetz‹ den deutschen Juristenverstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts.«

Der rechtsphilosophische Positivismus, also die Auffassung, zwischen dem geltenden »Recht« der geschriebenen Gesetze und einer womöglich bloß als subjektiv-moralisches Ideal angenommenen »Gerechtigkeit« müsse streng unterschieden werden, als Steilvorlage für den Nationalsozialismus – neu zu entwickeln brauchte Radbruch diesen Gedanken nicht. Carl Schmitt, einer der führenden Verfassungsrechtler des Dritten Reiches, hatte ihn 1934 in dem Aufsatz »Der Führer schützt das Recht« ausgesprochen: Das »Weimarer System« habe sich in der »leeren Gesetzlichkeit einer unwahren Neutralität« selbst zerstört und seinen eigenen Feinden ausgeliefert.

Theorie Die Wiener Philosophieprofessorin Herlinde Pauer-Studer und der Philosoph Julian Fink von der Universität Bayreuth haben jetzt einen umfangreichen Sammelband mit Aufsätzen nationalsozialistisch ausgerichteter Juristen herausgegeben. Thema: die verfassungsrechtlichen und rechtsphilosophischen Theorien, die dem NS-System von dessen Apologeten zugrunde gelegt wurden. Das Spektrum der Autoren umfasst sowohl ehrgeizige junge Akademiker, die Karriere machen wollten, als auch Führungspersönlichkeiten des Systems

Der Leser, der Radbruchs Aussage über die »Wehrlosmachung« der Justiz durch den Positivismus im Sinn hat, erlebt bei der Lektüre dieser Texte vielleicht eine Überraschung. Immer wieder findet sich eine scharfe Kritik des Rechtspositivismus. Zum Beispiel bei Karl Larenz, 1934: Die Lehre von Hans Kelsen, dem »Klassiker der positivistischen Richtung«, sei »eine Erscheinungsform der geistigen Überfremdung«. Das bezog sich nicht bloß darauf, dass Kelsen Jude war. Larenz argumentierte grundsätzlicher: Durch den Rechtspositivismus werde das Recht »aus seinem natürlichen Zusammenhang mit der nationalen Sitte und der Sittlichkeit« gerissen.

Ethik Pauer-Studer und Fink bezeichnen das NS-Gegenkonzept provokativ als eine »Ethisierung des Rechts«. Dabei wirkt schon der Gedanke, in diesem Unrechtsstaat könnte ernsthaft über Recht nachgedacht worden sein, befremdlich. Aber in einem streng deskriptiven Sinn wird man tatsächlich sagen müssen: Auch der Nationalsozialismus hatte seine »Ethik«, so sehr sie auch jeder universalistischen Begründung des moralisch Richtigen zuwiderlief.

Die Konsequenzen für das Strafrecht formulierte das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches 1935. Bestraft wurde nunmehr nicht nur, was im Gesetz für strafbar erklärt war, sondern auch alles, was nach dem »gesunden Volksempfinden« Strafe verdiente. Der »Weg zur ideologischen und weltanschaulichen Urteilsfindung war somit frei«, der »Politisierung des Rechts« Tür und Tor geöffnet, stellen Pauer-Studer und Fink fest. Vom Wortlaut der Gesetze war der Richter damit weitgehend frei, nicht allerdings von Weisungen der Obrigkeit, die ihm sagte, was das »gesunde Volksempfinden« gerade fordern sollte.

Heute ist schwer nachzuvollziehen, dass diese Wendung gegen alle hergebrachten Grundsätze der Rechtsauslegung damals auch auf professionelle Juristen eine gewisse Faszination ausübte. Vorbild für die Idee der Volksgemeinschaft dürfte vor allem das »Frontkämpfertum« aus dem Ersten Weltkrieg gewesen sein; im Gegenzug konnte der angebliche »Wertagnostizismus« Kelsens und seiner Anhänger zur Ursache für das Scheitern der Weimarer Republik erklärt werden.

Moral Pauer-Studer und Fink verteidigen den »Positivismus« jedoch gegen diesen Vorwurf: Schon aus logischen Gründen sei es zwingend, Recht und Moral als verschiedene Normsysteme zu behandeln. Sonst wäre es von vornherein unmöglich, geltende Gesetze nach den Maßstäben von »richtig« und »falsch« zu beurteilen.

»An die Stelle eines an formalen Verfahren orientierten Rechtsbegriffs«, resümieren die Herausgeber, trat in der nationalsozialistischen Theorie »ein materiales, durch Weltanschauung und politisch geprägte Wertvorstellungen angereichertes Verständnis des Rechts.« Als Kronzeuge wurde Jean-Jacques Rousseau mit seiner Lehre vom »allgemeinen Willen« herangezogen.

Und dann Hegel. Für Hegel, schrieb Karl Larenz, war »das Recht etwas Heiliges überhaupt, weil es das Dasein des allgemeinen Willens, d.h. Form und Ausdruck der in einem Volk lebendigen objektiven Sittlichkeit ist«. 1939 deutete Ernst Rudolf Huber in seinem »Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches« Hegels Gedanken des »Volksgeistes« um: Die »ewigen Wesensgesetze und die unvergänglichen Sendungsaufgaben des Volkes« seien der Kerngehalt der völkischen Weltanschauung.

Und da alles »Ewige« irdische Sachwalter benötigt, wies Huber der nationalsozialistischen Bewegung die Aufgabe zu, »dem Volk eine einheitliche politische Weltanschauung zu vermitteln«. Damit war dann auch der Einparteienstaat pseudo-demokratisch legitimiert: Nur die Bewegung, so Huber, könne »die Kluft, die bisher zwischen Volk und Staat bestand, überbrücken und den völkischen Staat schaffen«.

»Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken des Nationalsozialismus in Orginaltexten«, hrsg. v. Herlinde Pauer-Studer und Julian Fink. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2014, 563 S., 22 €

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