László Krasznahorkai

Geschichten am Rand eines Strudels

László Krasznahorkai

Geschichten am Rand eines Strudels

Jedes Jahr wird der Ungar als Literaturnobelpreisträger gehandelt. Drei neue Erzählungen zeigen seine Meisterschaft

von Maria Ossowski  24.03.2024 06:52 Uhr

»Nach kurzem Zögern stürze ich hinein, sofort erfasst er mich, reißt mich mit sich fort, lässt mich nicht mehr los.« Nobelpreisträger Imre Kertész hat mit diesem Bild wunderbar das Werk seines Kollegen und Landsmanns László Krasznahorkai beschrieben, und die Strudel-Metapher gilt auch für die jüngsten drei Erzählungen des ungarischen Schriftstellers Im Wahn der Anderen.

Im Dialog mit dem tiefgründig-figurativen Maler Max Neumann entwickelt Krasznahorkai eine literarische Meditation über das Leid aus der Perspektive des gefangenen Tieres. »Animalinside« vereint in sich dichtend und bildnerisch die Klage jeder geschundenen Kreatur.

Neumann zeichnet in Mischtechnik auf Papier die Kreaturen in ihrer Not, Krasznahorkai schreibt: »Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu heulen, und nun bin ich für immer nur meine Anspannung und mein Heulen, alles, was war, ist nicht mehr … also heule ich halt in einem einzigen Heulen, ausgeschlossen aus der Zeit, eingeschlossen in einen Raum, der nicht für mich dimensioniert ist … ihr könnt mich nicht beschreiben, ihr könnt mich nicht malen, weil ihr nicht wisst, was der Augenblick ist, nicht wisst, was das Ewige ist.«

Krasznahorkai schreibt auf Ungarisch, spricht Deutsch und lebt hin und wieder in Berlin.

Dass der Mensch sich die Erde untertan mache, bedeutet in der jüdischen Ethik nicht, andere Lebewesen in Käfigen und Schlachthäusern zu quälen, um sie zum Nutzen der Menschen massenhaft zu töten. Tieren darf kein unnötiger Schmerz zugefügt werden, sie haben ein Recht auf das Leben.

László Krasznahorkai und Max Neumann gelingt es eindrücklich, der Misere des Lebendigen in Gefangenschaft einen Ausdruck zu verleihen, mit grafischen Silhouetten und Symbolen und einer introspektiven, gleichsam das Unbewusste anrührende Sprache.

Krasznahorkai, 1954 in Gyula in eine jüdische Familie geboren, schreibt auf Ungarisch, spricht Deutsch und lebt hin und wieder in Berlin. Jedes Jahr findet sich sein Name auf den Eventuell-Listen der möglichen Literatur-Nobelpreisträger. »Weltliteratur, unbedingt lesen«, so hat Literaturkritiker Denis Scheck einst zur Lektüre dieses Dichters aufgerufen.

Im Wahn der Anderen beweist eindrücklich die Meisterschaft des 70-jährigen Fast-Nobelpreisträgers. Da möchte ein Bibliothekar die Bücher vor der Ausleihe der Leser retten: »Wir, und ich denke, das kann ich im Namen aller knick- beziehungsweise senkfüßigen Bibliothekare der Welt sagen, mögen unsere Leser nicht besonders, und da drücke ich mich noch sehr verhalten aus.« Am liebsten würde er sie aus den Bibliotheken jagen, so wie die Schweine aus Juweliergeschäften. Sie sind der Bücher und ihrer Geschichten nicht wert.

Ein altmodisches, fast aus der Zeit gefallenes Bild angesichts des dramatischen Leserschwunds im Siegeszug des Digitalen?

Ein altmodisches, fast aus der Zeit gefallenes Bild angesichts des dramatischen Leserschwunds im Siegeszug des Digitalen? Eher eine Allegorie auf das Unverständnis, Kunst, Dichtung und auch Musik begreifen zu wollen. Diese drei Dimensionen tragen die letzte Geschichte: »Richtung Homer«. Da versucht ein Verfolgter, im Takt eines Schlagzeugsolos seinen Häschern zu entfliehen, quer durch Europa mit Zug und Fähre.

»Es war völlig offensichtlich, dass die richtig gewählte Geschwindigkeit ein Fehler war … die richtige Geschwindigkeit nämlich hätte seine Bewegungen berechenbar gemacht … Er wählte die Geschwindigkeit falsch, unberechenbar.« Die Jagd endet auf einer abgelegenen Insel. Will er dort ankommen? Was entdeckt er zum Schluss? Er hatte nicht aufgegeben … darum geht es. Nicht aufzugeben.

László Krasznahorkais kontemplativ-abgründige Weltbeobachtungen sind keine simple Freizeitlektüre. Kongenial von Heike Flemming übersetzt, leuchten sie in Verbindung mit Max Neumanns großer bildnerischen Aussagekraft die Dimensionen zeitgenössischer Literatur neu aus.

László Krasznahorkai: »Im Wahn der Anderen. Drei Erzählungen« Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024, 256 S., 38 €

Antisemitismus

Kanye Wests Hitler-Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 16.05.2025

ESC

Kraftvolle Stimme der Resilienz

Yuval Raphael qualifiziert sich am Donnerstagabend in Basel für das Finale und bietet allen Buhrufern entschlossen die Stirn. Ein Kommentar

von Nicole Dreyfus  16.05.2025

Meinung

Neukölln stigmatisiert sich selbst

Heleen Gerritsen, künftige Leiterin der Deutschen Kinemathek, unterschrieb 2023 einen Boykottaufruf gegen Lars Henrik Gass. Jetzt liefert sie eine schräge Begründung nach

von Stefan Laurin  16.05.2025

TV-Tipp

Arte zeigt Porträt des kanadischen Sängers Leonard Cohen

Es ist wohl das bekannteste Lied des kanadischen Sängers Leonard Cohen. Und so steht »Hallelujah« auch im Zentrum eines ebenso unterhaltsamen wie inspirierenden Porträts über diesen modernen Minnesänger

 16.05.2025

Musik

Yuval Raphael steht im Finale des ESC

Die 24-jährige israelische Sängerin wurde vom Publikum in Basel für ihren Beitrag »New Day Will Rise« gefeiert

 15.05.2025

Berlin

»So monströs die Verbrechen der Nazis, so gigantisch dein Wille, zu leben«

Leeor Engländer verabschiedet sich in einer berührenden Trauerrede von Margot Friedländer. Wir dokumentieren sie im Wortlaut

von Leeor Engländer  15.05.2025

Kommentar

Journalistisch falsch, menschlich widerlich

»News WG«, ein Format des Bayerischen Rundfunks, hat eine Umfrage darüber gestartet, ob man Yuval Raphael, eine Überlebende der Massaker des 7. Oktober, vom ESC ausschließen soll

von Johannes Boie  15.05.2025

Mirna Funk

»In Tel Aviv bin ich glücklich«

Seit einem Jahr lebt die Berliner Autorin in Israel. Nun hat sie einen Reiseführer geschrieben. Mit uns spricht sie über Lieblingsorte, Israel in den 90er-Jahren und Klischees

von Alicia Rust  15.05.2025

Yael Adler

»Mir geht es um Balance, nicht um Perfektion«

Die Medizinerin über die Bedeutung von Ballaststoffen, darmfreundliche Ernährung als Stimmungsaufheller – und die Frage, warum man trotzdem auch mal eine Bratwurst essen darf

von Ayala Goldmann  15.05.2025