Theater

Gerettet in New York

Es sind nur knapp zwei Stunden Theater. Die ein schwieriges, eigentlich unmögliches Thema behandeln: die Schoa. Leopoldstadt ist das neue Stück des über 80-jährigen Erfolgsdramatikers Tom Stoppard, Autor von Rosenkranz und Güldenstern sind tot und des Films Shakespeare in Love.
Sir Tom, 1997 von Königin Elizabeth für seine Verdienste um das britische Theater geadelt, wurde 1937 als Tomáš »Tomik« Sträussler in der mährischen Stadt Zlín als zweiter Sohn eines jungen jüdischen Ehepaars geboren.

Der Vater, Werksarzt beim Schuhkonzern Bata, wurde unmittelbar nach der deutschen Besetzung in die als uneinnehmbar geltende britische »Festung Singapur« versetzt, die prompt kapitulierte, worauf er Frau und Kinder ins sichere Indien schickte. Das Schiff, mit dem er der Familie schließlich nachfolgte, wurde von den Japanern versenkt, die verwitwete Mutter heiratete 1945 einen britischen Major, der ihre Söhne adoptierte, und mochte oder konnte ihnen nichts vom früheren Leben und ihrem Vater vermitteln.

Das Stück wurde in London uraufgeführt und am Broadway zum Hit der laufenden Saison.

Erst 1994, mit 57 Jahren, hat Stoppard, wie er schreibt, überrascht und beschämt erfahren, dass er vier jüdische Großeltern hatte, die in deutschen Lagern ums Leben kamen. 25 Jahre später wiederum hat er diese Erfahrung zu seinem Theaterstück Leopoldstadt verdichtet.

PROJEKTIONEN 2020 am Londoner Westend uraufgeführt, in der Covid-Krise unterbrochen, hat man die Aufführung im vergangenen Oktober in den New Yorker Broadway übertragen, wo sie zum Hit der laufenden Saison wurde. Sie ist, in der Tat, ein Theaterwunder.

Eine weiße Leinwand mit Bildprojektionen aus dem jüdischen Wien um 1900 geht hoch, und die etwas rumpelige Broadway-Bühne (wo abends ganz prosaisch der Schwerverkehr vorbeirattert) verwandelt sich in den Salon einer großbürgerlichen Wiener jüdischen Familie – so überzeugend, dass sich der deutschsprachige Zuschauer unwillkürlich fragt, wieso denn hier Englisch und nicht Österreichisch gesprochen wird.

Regie und Theater haben sich durch Vorausmitteilungen per E-Mail und mehrfache Projektionen des Familienstammbaums viel Mühe gegeben, dem Publikum eine präzise Aufschlüsselung der komplexen Verwandtschaftsverhältnisse der zahlreichen Akteure (38 Schauspieler insgesamt) zu vermitteln, doch die Kunst des Autors besteht darin, die einzelnen Charaktere und Motive wie in einer der im Stück mehrfach erwähnten Mahler-Symphonien derart geschickt zu einem überzeugend lebendigen vielstimmigen Ganzen zu verweben, dass man deren Tun und Lassen auf mehreren unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig verfolgen kann, ohne sich auf Einzelheiten einlassen zu müssen. Es reicht zu wissen, dass alle Figuren irgendwie verwandt oder verschwägert sind, sich mögen und dass es ihnen, unberufen, gut geht.

WEIHNACHTSBAUM Die Frau des Hauses wird von Gustav Klimt porträtiert; ihr Mann, »Ex-Jude« und Großindustrieller, steht kurz vor der Aufnahme in den exklusiven Jockey-Klub; sein Schwager, Mathematiker, nimmt es gelassen hin, dass ihn sein Noch-Judentum am schnellen beruflichen Fortkommen hindert. Die Kinder dekorieren den im besseren Wiener jüdischen Bürgertum üblichen Weihnachtsbaum, wie er auch bei Freuds und Herzls (dort bis zum Besuch des Oberrabbiners) stand.

Die Herren unterhalten sich über die glorreiche Gegenwart, wo das Gerümpel der vorigen Jahrhunderte – gelber Stern, das Ghetto von Leopoldstadt, Aufenthaltsverbote und Sonderpässe – im Abgrund des Mittelalters verschwunden sind und sie als Juden, getauft wie Mahler, ungetauft wie Schnitzler und Freud, entscheidend zum Geistes-, Kunst- und Wirtschaftsleben ihrer Stadt beitragen.

Thema auch: die 80-seitige Broschüre des Kulturredakteurs der maßgeblichen, in jüdischem Besitz befindlichen Wiener Zeitung »Neue Freie Presse«, die derselben keine Zeile Erwähnung wert ist; Theodor Herzls Judenstaat, wo von einem eigenständigen jüdischen Staat fantasiert wird. Ein Motiv, dem, zunächst von den beiden Herren belächelt, im Verlauf des Abends, nicht anders als dem entschädigungslos im österreichischen Staatsbesitz endenden Klimt-Porträt, eine immer größere und schmerzlichere Bedeutung zukommt.

SCHLUSSSZENE Denn die Zugehörigkeit der Familienmitglieder zur Wiener Gesellschaft wird im Laufe der nächsten Szenen ebenso »berufen« wie ihr Wohlstand, ihre körperliche Unversehrtheit und schließlich ihr nacktes Überleben, bis sie in einer fast nicht zu ertragenden Schlussszene in der nun geplünderten Wohnung zusammengetrieben und von einem Nazischergen schikaniert werden, der sich standesgemäß mit dem gleichen Doktortitel anreden lässt, der die Hälfte der Teilnehmer der Wannsee-Konferenz schmückte.

Das Stück endet im grauen Tageslicht von 1955, wo sich in der leeren Wohnung die einzigen drei Personen treffen, die von dieser so anrührend menschlich geschilderten Großfamilie übrig geblieben sind: ein Auschwitz überlebender Neffe, der vom umgekommenen Onkel die Liebe zur Mathematik vermittelt bekam; eine Nichte, die nach Amerika ausgewandert war und den einen Fehler beging, amerikanische Visa für die ganze Familie anzustreben, statt sich mit wenigen gezielten Rettungen zu begnügen – was dazu führte, dass sie die erforderlichen Papiere erst erhielt, als die Nazis sämtliche Ausreisemöglichkeiten für Juden gesperrt hatten. Worauf Amerika, wie sie bitter anmerkt, nicht einmal die eigenen dürftigen Einreise-Kontingente für jüdische Flüchtlinge erfüllen konnte.

Erst mit 57 Jahren erfuhr Stoppard, dass seine Großeltern in deutschen Lagern umkamen.

Und eben Tom Stoppards Alter Ego, ein Jungbrite mit, wie es in einer Anmerkung der Regie heißt, »etwas übertriebenem« englischen Akzent, der zwei erfolgreiche humoristische Bücher verfasst hat und sich an gar nichts erinnern können will, um dann beschämt in Tränen auszubrechen.

MAHNUNG Vielleicht lässt sich die fulminante Wirkung des Stücks damit erklären, dass Leo­poldstadt wie eine Mahnung wirkt, dass selbst die »Goldene Medine«, die wunderbar jüdische Stadt New York, wo das echte Klimt-Porträt der »Frau in Gold« im Museum des jüdischen Mäzens Ronald Lauder hängt und Kippot in der Metro ebenso selbstverständlich sind wie im Parkett der Metropolitan Opera, Juden so wenig zwingend einen ewig sicheren Hafen bieten muss wie das Wien von 1900.

Dass aber zugleich immer irgendwie und irgendwo ein »Rest Israels« bleibt: als New Yorker Psychoanalytikerin, die sich die Mühe macht, den Verbleib ihrer ermordeten Verwandten zu erforschen und zu dokumentieren; als Mathematiker, der das geistige Erbe eines toten Onkels weiterführt; als Neu-Engländer, der als britischer Humorist Karriere macht – oder, wie im wirklichen Leben, als Sir Tom Stoppard, geborener Tomáš Sträussler aus Zlín, Theatertexte wie Leopoldstadt zu schreiben vermag.

Das Stück läuft bis zum 2. Juli am Longacre Theatre in New York.

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