Kino-Tipp

Flirt mit dem Scheitern

Britisches Filmplakat zu Alejandro Jodorowskys »Endless Poetry« Foto: dpa

Poet möchte er werden, der junge Alejandro. Sein hartherziger Vater hat jedoch andere Pläne: Der Sohn soll Medizin studieren. Darauf hat Alejandro keine Lust. Während einer Feier legt er die Axt an den Familienstammbaum. Es kommt zum Bruch: Dieser Plot, im Grunde eine Allerweltsgeschichte, bildet nur den Aufhänger für einen Tornado der Bilder, der den Zuschauer mit sich reißt.

Nach seinem Comeback La Danza de la Realidad aus dem Jahr 2013 realisiert Alejandro Jodorowsky mit Endless Poetry – Poesía sin fin nun den Mittelteil einer autobiografischen Trilogie über seine – jüdische – Kindheit und Jugend in Chile. Jodorowskys Alter Ego wird gespielt von seinem Sohn Adan, die des Vaters vom älteren Sohn Brontis. Und wie schon in seinem Kultfilm Montana Sacra – Der heilige Berg tritt auch der Meister selbst vor die Kamera, um mit erhobenem Zeigefinger Lebensweisheiten von sich zu geben. Wobei er sich wie eine Mischung aus esoterischem Therapeuten und Scharlatan geriert.

Begegnungen Kein Zweifel, mit Endless Poetry bleibt der aus einer jüdisch-ukrainischen Familie stammende Filmemacher sich und seinem unverwechselbaren Stil treu. Der lose geknüpfte Erzählfaden motiviert eine Reihe von Begegnungen des Helden mit skurrilen Gestalten, die den werdenden Dichter auf unterschiedliche Weise inspirieren. In einer märchenhaft überzeichneten Künstler-WG lernt der junge Alejandro, Puppen herzustellen. Und er trifft verschiedene Seelenverwandte, denen ihre Kunst auf eine jeweils sehenswerte Art zur zweiten Natur geworden ist.

Jede dieser Mini-Episoden schwelgt in einer an Fellini erinnernden manieristischen Bilderfülle. Gestalten wie aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch treten auf. So kauern in den Ecken dämonisch anmutende, völlig in Schwarz gehüllte Bühnenhelfer, die gelegentlich Requisiten anreichen. Indem das Theaterartige ausgestellt wird, gleichzeitig aber Bestandteil des visuellen Konzepts ist, verschränken Fiktion und Realität sich zu Tableaus von traumartiger Entrücktheit.

Ein Kabinettstück ist die Gestaltung jenes morbiden Cafés, in dem somnambule Männer auf den Tod warten. Hier trifft der Poet seine Muse, eine rothaarige Überfrau mit der Erotik eines Bulldozers, die zwei Maß Bier auf Ex trinkt. Indem er diese Stella von Pamela Flores spielen lässt, die auch die Mutter verkörpert – und ihre Dialoge als Einzige wie eine Operndiva singt –, deutet Jodorowsky brachial einen Inzest an. Subtilität sucht man vergeblich in diesem Bilderrausch.

Mischung Der Chilene verknüpft Einflüsse aus Theater, Pantomime, Zirkus, Comic und dem Voyeurismus der Jahrmarktsgaukelei zu einer immer wieder aufs Neue verblüffenden Mischung. Ein Mann, der seine Hände verlor, möchte wenigstens einmal seine Freundin streicheln. Das Theaterpublikum, dem er von der Bühne aus von dieser traurigen Begierde erzählt, verleiht ihm in einer Gänsehaut erzeugenden Geste das Gefühl, Hände zu haben. Mit solchen aus dem Ärmel geschüttelten Szenen übertrifft Jodorowsky sich selbst.

Auf ihrer Suche nach der Schnittmenge zwischen Pornografie und Metaphysik nimmt sich diese Exploration des Anstößigen schon mal eine Atempause. Wenn der junge Poet beispielsweise Sex mit einer menstruierenden Zwergfrau hat und bei einer Lesung später Gedärme ins Publikum wirft, wirken die Provokationen etwas altbacken. Doch diese kleinen Durststrecken sind zu verkraften. Denn bei dem inzwischen 89-jährigen Jodorowsky, der nach eigenem Bekunden 120 Jahre alt werden will, hat man nie das Gefühl, dass seine Bilder zu einer Masche geworden sind.

Zum Erlebnis wird dieses Spätwerk, dessen Fertigstellung nur mit Crowdfunding möglich wurde, durch seinen intensiven Flirt mit dem Scheitern. Jodorowsky steht dem Camp nahe, jener Ästhetik, bei der das Erhabene und das Banale sich auf eine unerwartete Weise berühren. Selten hat man das Gefühl, dass das Kino so sehr zu sich selbst kommt.

Der Film kommt am Donnerstag in die Kinos.

Genetik

Liegt es in der Familie?

Eierstockkrebs ist schwer zu erkennen. Warum ein Blick auf den Stammbaum nützen kann

von Nicole Dreyfus  23.11.2025

Hebraica

»Was für ein Buchschatz!«

Stefan Wimmer über die Münchner Handschrift des Babylonischen Talmuds als UNESCO-Weltkulturerbe

von Stefan Wimmer  23.11.2025

Aufgegabelt

Linsenpfannkuchen von König David

Rezept der Woche

von Jalil Dabit, Oz Ben David  22.11.2025

TV-Tipp

TV-Premiere: So entstand Claude Lanzmanns epochaler Film »Shoah«

Eine sehenswerte Arte-Dokumentation erinnert an die bedrückenden Dreharbeiten zu Claude Lanzmanns Holocaust-Film, der vor 40 Jahren in die Kinos kam

von Manfred Riepe  21.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  21.11.2025

Gespräch

»Der Überlebenskampf dauert an«

Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch, Israels Krieg gegen den palästinensischen Terror und die verzerrte Nahost-Berichterstattung in den deutschen Medien

von Detlef David Kauschke  21.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  21.11.2025

TV-Kritik

Allzu glatt

»Denken ist gefährlich«, so heißt eine neue Doku über Hannah Arendt auf Deutsch. Aber Fernsehen, könnte man ergänzen, macht es bequem - zu bequem. Der Film erklärt mehr als dass er zu begeistern vermag

von Ulrich Kriest  21.11.2025