Franz Kafka

Filigrane Figuren

Mit flottem Federstrich auf das Blatt geworfene, filigrane, auf Konturen reduzierte Figuren. Sie scheinen zu schwingen und zu tänzeln. Warum hat eine dieser Figuren eine betont ausformulierte Beinbehaarung? Hier und dort mischen sich voluminöse Tuschflecken ins Bildgeschehen; man sieht Blätter, aus denen Fragmente ausgeschnitten wurden. Dann, in einem Kuvert: in schwarzer Tusche ausgefüllte Figuren, die sich auf diverse Art verrenken und dem Betrachter zugleich bekannt vorkommen – prangen sie doch schon seit Jahrzehnten auf Buchumschlägen.

SELBSTPORTRÄT Die vielleicht erstaunlichste Entdeckung dieses bemerkenswerten Bandes: ein Selbstporträt von Franz Kafka (1883–1924), skizzenhaft mit dem Bleistift aufs Blatt gesetzt und dennoch unverkennbar. Es ist zwischen 1905 und 1907 entstanden und zeigt Kafka als Twentysomething, der zu dieser Zeit parallel zu seinen ersten Schritten im Schrei­ben auch Zeichenunterricht nahm, an Kunstgeschichtsvorlesungen teilnahm und die Nähe von Künstlern suchte.

Dieses erstaunliche Blatt, das auch ein Porträt von Kafkas Mutter Julie zeigt, ist neben zahlreichen weiteren, eingangs kursorisch erwähnten Zeichnungen des weltberühmten Prager Schriftstellers in dem jüngst erschienenen, vom Zürcher Literatur- und Kulturwissenschaftler Andreas Kilcher herausgegebenen Band Franz Kafka: Die Zeichnungen versammelt.

Bis auf wenige Blätter, etwa die Tuschezeichnungen, deren Reproduktionen die Umschläge von Kafkas bei S. Fischer verlegten Werken zieren, war der Großteil seiner Zeichnungen zuvor kaum der breiten Öffentlichkeit zugänglich. In seinem Testament von 1921 bat Kafka seinen Freund Max Brod, sämtliche in seinem Nachlass befindlichen Tagebücher, Manuskripte, Briefe – und »Gezeichnetes« – zu verbrennen. Bekanntlich befolgte Brod diese Bitte des 1924 im Alter von 40 Jahren verstorbenen Autors nicht. Und doch blieben bis vor wenigen Jahren die meisten zeichnerischen Arbeiten Kafkas unter Verschluss.

BESITZER Einleitend rekonstruiert Andreas Kilcher ausführlich die Überlieferungsgeschichte dieses Konvoluts. Das Gros der Zeichnungen gehörte demnach zunächst Brod selbst und befand sich später im Privatbesitz seiner Erbin und vormaligen Sekretärin Ilse Ester Hoffe. Zu Lebzeiten veröffentlichte Brod nur wenige Zeichnungen, ansonsten aber sperrte er sich etwa gegen Angebote, Kafkas Bilder auszustellen.

2016 sprach Israels Oberstes Gericht nach einem jahrelangen Prozess diesen Teil des Kafka-Nachlasses – der auch bereits bekannte Manuskripte enthielt – den Erbinnen der 2007 verstorbenen Ilse Ester Hoffe ab und der Nationalbibliothek in Jerusalem zu. Nachdem im April 2019 auch das Zürcher Bezirksgericht das israelische Urteil für rechtskräftig erklärt hatte, holte eine Delegation der israelischen Nationalbibliothek den zuvor in vier Banksafes gelagerten Nachlassbestand ab, um ihn nach Jerusalem zu bringen und aufzuarbeiten.

Die meisten Arbeiten waren bis vor wenigen Jahren unter Verschluss.

Der nun dort verwahrte Bestand umfasst laut Kilcher rund 150 Zeichnungen von Franz Kafka, die auf Einzelblättern, Blattausschnitten, bedruckten oder beschrifteten Zetteln und Postkarten sowie einem Zeichenheft zu finden sind. Der Band führt nun, so Kilcher, die bekannten, in Jerusalem, Marbach, Oxford und Wien aufbewahrten Nachlassbestände zusammen: »Ziel und Zweck ist es, Kafkas gesamtes zeichnerisches Œuvre vorzulegen.«

BRIEFE Er versammelt zum einen die meist zwischen 1901 und 1907 entstandenen autonomen Zeichnungen, aber auch die zwischen 1909 und 1924 in Briefen, Tagebüchern und Notizheften immer wieder inmitten von Text beiläufig auftauchenden Bilder. Die Abbildungen sind das Herzstück des Bandes. Begleitet werden sie von Essays von Andreas Kilcher, der Philosophin Judith Butler sowie einem Werkverzeichnis mit Beschreibungen, die von dem Künstler und Kunstwissenschaftler Pavel Schmidt angefertigt wurden.

Franz Kafkas Zeichnungen lassen keinen durchgehenden Duktus oder gar Stil erkennen. Schematisch-skizzenhafte Figuren finden sich ebenso darunter wie flüchtige Reiseskizzen sowie um Naturalismus bemühte frühe zeichnerische Studien mit und ohne Modell. Kafka füllte bisweilen ganze Blätter mit mehreren voneinander unabhängigen Figuren, was wie eine visuelle Ideensammlung, eine Art Mindmap, anmutet.

Dass hier und dort gemarterte, eingeschlossene, grübelnde, mit sich hadernde Figuren auftauchen, lässt den Betrachter wiederum Bezüge zu Kafkas literarischem Werk vermuten. Überhaupt verschmolz bei ihm mit den Jahren das Zeichnerische zunehmend mit der Schrift, in Briefen und auf Postkarten etwa.

Der Zeichnung wird nicht umsonst eine Nähe und Verwandtschaft zur Schrift nachgesagt. Die wechselseitige Befruchtung und Ergänzung beider Medien wird in diesem Buch ersichtlich. Ohnehin ist Kafkas Handschrift längst ikonisch geworden – sie ist zum Bild geronnen. Der von Andreas Kilcher vorgelegte Band könnte dazu beitragen, das bildnerische Schaffen des großen jüdischen Pragers endlich angemessen einzuordnen.

»Franz Kafka: Die Zeichnungen«. Herausgegeben von Andreas Kilcher. C.H. Beck, München 2021, 368 S., 45 €

Berlin

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