Literatur

Erwin aus Czernowitz

»Ich schreibe über 100 Jahre jüdischer Einsamkeit«: Aharon Appelfeld Foto: getty

Das erste Presse-Interview seines Lebens gab Aharon Appelfeld 1948 in Jerusalem. In deutscher Sprache, denn weder er noch der Journalist Arthur Koestler, der ihn befragte, beherrschten Hebräisch. Appelfeld war damals 16 Jahre alt, seit rund zwei Jahren im Land und wohnte in einer Einrichtung der Jugendalijah. »Koestler kam damals zu uns, weil er etwas über die Kinder erfahren wollte, die die Schoa überlebt hatten«, erinnert sich Appelfeld. Die jungen Leute sollten das Vergangene möglichst schnell vergessen und »neue Juden« werden. Was ein »neuer Jude« sein sollte, war zwar weder Koestler noch Appelfeld ganz klar, aber es hatte offenbar viel mit Landwirtschaft, Militärdienst und körperlicher Ertüchtigung zu tun.

umerziehung In seinem auf Deutsch Mitte Januar erschienenen neuen Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, kehrt Appelfeld, der diese Woche 80 Jahre alt wird, zu seinen Jahren in der Jugendalijah zurück. In jene Zeit also, als die mitunter rührend naiven israelischen Erzieher alles daran setzten, aus dem Czernowitzer Jungen Erwin Appelfeld einen israelischen »Tarzan« (Koestler) zu machen. Doch während es den Israelis 1948 zwar gelang, fünf arabische Armeen zu besiegen, scheiterten sie kläglich an der Umerziehung Erwins. Wie sein Alter Ego im Roman, erkannte auch Appelfeld schließlich, dass jeder Versuch, aus ihm einen »neuen Juden« ohne Diaspora-Vergangenheit zu machen, in Identitätsverlust enden musste.

So wie Erwin im Roman sich in seine Heimatstadt und sein Elternhaus zurückträumt, beschwört auch Appelfeld in jedem seiner Bücher die Welt seiner Kindheit und Jugend in der Galut. Wenn er schreibt, dann kehrt er nicht in die Vergangenheit zurück, sondern dann ist er zu Hause. »Ich setze mich hin und schreibe und bin in meinem Haus. Und inzwischen habe ich schon mehr als ein einziges Haus, bereits ein ganzes Viertel, denn ich habe schon rund 40 Bücher geschrieben. In dieses Viertel hole ich meine Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, all die Freunde meines Vaters und meiner Mutter, all die Kommunisten, all die Liberalen, Anarchisten, Zionisten und Religiösen. Ich versuche, über 100 Jahre jüdischer Einsamkeit zu schreiben.«

kindheit Man hat Aharon Appelfeld immer wieder einen »Schoa-Dichter« genannt. Nichts macht ihn ärgerlicher, auch wenn der Massenmord an den europäischen Juden in seinen Büchern eine zentrale Rolle spielt. Der Holocaust gehört nun einmal zu seiner Biografie, hat seine Kindheit geprägt, aus der er, wie andere Schriftsteller, schöpft. Aharon Appelfeld, geboren am 16. Februar 1932 in Sadhora nahe Czernowitz, wuchs in einer assimilierten und sehr liebevollen Familie auf.

»Als ich achteinhalb Jahre alt war, verlor ich mein Zuhause. Ich war im Lager, ich hatte keine Mutter mehr. Man hatte sie ermordet. Ich war zunächst bei meinem Vater, dann nahmen sie ihn fort von mir. Ich blieb alleine. Danach floh ich aus dem Lager und lebte im Wald. Dann verschlug es mich in die Unterwelt, zu Kriminellen. Bis zum Alter von 13, 14 Jahren hatte ich also ein hartes Leben. Nicht das Leben eines Kindes, sondern eines Erwachsenen. Und gleichzeitig war auf der einen Seite der Horror, auf der anderen Seite doch ein Kind. Einerseits ist nichts schlimmer, andererseits betrachtet ein Kind die Welt als eine Art Märchen.« Und so glaubte der Junge fest daran, dass seine Eltern ihn eines Tages retten würden. Es war nicht zuletzt diese kindliche Vorstellungskraft, die dem Jungen half, die Jahre der Verfolgung zu überleben. Dieser besondere, fast magische Blick eines Kindes auf die Welt prägt alle Bücher Appelfelds, der von Kritikern immer wieder mit Kafka verglichen wird.

wiedersehen In Israel, wo sein erstes Buch bereits 1957 erschien, hatte es der Schriftsteller dennoch lange schwer, akzeptiert zu werden. Weder wurde seine klare, lakonische Sprache geschätzt, noch gestand man ihm zu, Romane statt Tatsachen- berichte über die Jahre der Schoa zu schreiben. »Das hat sich erst vor rund 25 Jahren geändert. Warum? Die meisten Überlebenden sind inzwischen gestorben. Und deren Kinder wissen nichts über ihre Eltern. Und so kommen sie zu mir, lesen meine Bücher. Für die bin ich sozusagen der Vater. Und die Mutter. Sie wollen verstehen. Auch sich selbst wollen sie verstehen.«

Eine Geschichte, die Aharon Appelfeld bislang nicht gewagt hat aufzuschreiben, handelt vom Wiedersehen mit seinem Vater, den er Ende der 50er-Jahre unverhofft in Israel wiedertraf. Appelfelds Zögern, diese Begegnung in einem Buch zu beschreiben passt zu dem großen Schriftsteller: »Die Kunst besteht nicht darin zu reden, sondern einen Raum zu erschaffen, in dem große Stille herrscht.«

Aharon Appelfeld: »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen«. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Rowohlt, Berlin 2012, 288 S., 19,95 €

Zahl der Woche

-430,5 Meter

Fun Facts und Wissenswertes

 12.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 13. November bis zum 20. November

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Interview

»Erinnern, ohne zu relativieren«

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer über das neue Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung, Kritik an seiner Vorgängerin Claudia Roth und die Zeit des Kolonialismus in der deutschen Erinnerungskultur

von Ayala Goldmann  12.11.2025

Erinnerungspolitik

Weimer: Gedenkstätten sind zentrale Pfeiler der Demokratie

Das Bundeskabinett hat ein neues Konzept für Orte der Erinnerung an die NS-Verbrechen und die SED-Diktatur beschlossen. Die Hintergründe

von Verena Schmitt-Roschmann  12.11.2025 Aktualisiert

Zürich

Goldmünze von 1629 versteigert

Weltweit existieren nur vier Exemplare dieser »goldenen Giganten«. Ein Millionär versteckte den Schatz jahrzehntelang in seinem Garten.

von Christiane Oelrich  11.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  11.11.2025

Sehen!

»Pee-Wee privat«

Der Schauspieler Paul Reubens ist weniger bekannt als seine Kunstfigur »Pee-wee Herman« – eine zweiteilige Doku erinnert nun an beide

von Patrick Heidmann  11.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  11.11.2025