Paul Celan

»Entwurf einer Erinnerung an das, was geschehen ist«

Thomas Sparr über das Echo der »Todesfuge«, Nachholbedarf der Literaturkritik und jüdische Einsamkeit

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  16.03.2020 15:36 Uhr

Der Autor und Literaturwissenschaftler Thomas Sparr Foto: Juergen Bauer

Thomas Sparr über das Echo der »Todesfuge«, Nachholbedarf der Literaturkritik und jüdische Einsamkeit

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  16.03.2020 15:36 Uhr

Herr Sparr, 2020 ist Paul-Celan-Jubiläumsjahr. Vor 100 Jahren wurde der Dichter geboren, vor 50 Jahren starb er. Seinem berühmtesten Gedicht, der »Todesfuge«, widmen Sie Ihr neues Buch, »Todesfuge. Biographie eines Gedichts«. Was hat Sie beim Schreiben am meisten fasziniert?
Ich dachte zuerst, das sei ein ganz abgelegter Text, oft gelesen, interpretiert. Und siehe da: Ich finde ihn neu, interpretationsbedürftig, verständnisöffnend – eine Anstiftung zum Nachforschen.

Was begründet ihren Ruhm?
Die »Todesfuge« hat wohl als erster Text dem, was wir später den Holocaust, die Schoa, den Zivilisationsbruch nannten, »avant la lettre«, eben genau diese »lettres«, diese Buchstaben, gegeben. Das ist ein Text, der sich von daher wie von selbst Weltgeltung verschafft hat. Menschen, die ihn zuerst hörten, haben sich seiner Suggestion, dieser Kraft des Ausdrucks gar nicht verschließen können – manche wollten sich ihm allerdings auch verschließen.

Frühe, erste Rezensionen von Celans Gedichten in Deutschland haben ausgerechnet die Todesfuge ausgeklammert. Sie schreiben: »Die Rezeption der Todesfuge ist Teil der Geschichte des Antisemitismus in Nachkriegsdeutschland.« Wieso gerade dieses Gedicht?
Weil es die krasseste, tiefste und ausdrucksstärkste Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden ist. Warum hat man das nicht einfach in einem Satz beschrieben und dokumentiert? Der Einzige, der das in seiner Generation gemacht hat, war Hans-Egon Holthusen – ausgerechnet ein ehemaliger SS-Mann hat Celan in Anthologien gedruckt. Er wusste von deren Wirklichkeitsgehalt, hat die »Todesfuge« aber zugleich in die Zeitlosigkeit des gültigen Kunstwerks entrückt. Es gab schon ein Erkennen, aber es gab auch eine Abwehr.

Sie schreiben, die »Todesfuge« habe ihre Wirkung zeitversetzt entfaltet. Inwiefern?
Die unmittelbare Wirkung der »Todesfuge« war Abwehr. So reagierte ein Freund Celans, Alfred Kittner, dem er sie schon , seiner Erinnerung nach, 1944 in Czernowitz vortrug, mit den Worten: »Dieses Gedicht ist ›zu schön‹.« Diese Vorstellung tauchte zuerst immer wieder auf. Erst fünf bis zehn Jahre später entfaltete das Gedicht seine ganze Wirkung. Das habe ich versucht, anhand der Rezeption in Amerika, die ich besonders bemerkenswert fand, zu zeigen.

Wie wurde Celan dort rezipiert?
Jüdischer! Außerhalb Deutschlands verstand man sehr schnell, welchen Erfahrungshorizont die »Todesfuge« hat. In Amerika wurde sie allein 1955 zweimal übersetzt, dann wieder 1958. Es gibt eine frühe ungarische Rezeption mit gleich zwei Übersetzungen, hintereinander gedruckt. Imre Kertész ist sehr beeinflusst von der »Todesfuge«. Wir finden sie wieder in der hebräischen Literatur, ebenso in Frankreich. Nichtdeutsche Autoren haben Celan enthusiastisch wahrgenommen. Das erklärt auch, warum wir heute Gesamtausgaben seines Werkes in fast allen Sprachen der Welt haben. Immer wieder gibt es neue Übersetzungsversuche, die aber auch immer zugleich ein neues Verständnis versuchen.

Kritiker in Deutschland hingegen beschränkten sich lange auf die Ästhetik des Gedichts. Ein Vorwand?
Die ganze Denkrichtung der 50er-Jahre ist von der »immanenten Interpretation« bestimmt: Ein Kunstwerk sollte sich aus sich selbst heraus erklären. Der größte Vertreter der immanenten Interpretation war Emil Staiger, ein bedeutender Literaturhistoriker aus Zürich. Er stand dem Schweizer Nationalsozialismus besonders nahe. Darüber wollte er nicht handeln – er wollte lieber von dem Kunstwerk »an und für sich« sprechen. Diesen Kreislauf muss man aufbrechen – um zu zeigen, dass es so etwas gar nicht gibt. Es gibt externe, historische Faktoren, die ein Kunstwerk überhaupt erst ermöglichen – und nötig machen. Bei Celan waren dies das Grauen der Verfolgung und der Ermordung von Millionen europäischer Juden – darunter seiner Eltern.

Die Pädagogik war damals offenbar weiter als die Literaturkritik. So beschreiben Sie in Ihrem Buch, wie eine Schulklasse Mitte der 50er-Jahre die Todesfuge liest.
Sie liest sie sehr aufmerksam – aber quer zur Literaturkritik. Das heißt, das didaktische Konzept überflügelt die Literaturkritik ihrer Zeit.

In jüngster Zeit gerät der Kulturbetrieb in puncto NS-Aufarbeitung verstärkt in den Blick – Stichwort Berlinale und documenta. Hat die Literaturkritik, haben Verlage diesbezüglich ebenfalls Nachholbedarf?
Jede Sphäre des kulturellen Nachkriegsdeutschlands hat ihre Lücken. Es ist unfassbar und schwer zu verstehen, dass ein so subventionierter Betrieb wie die Berlinale nicht längst ihre Geschichte aufgearbeitet hat. Das wäre Erinnerungskultur der eigenen Kulturinstitutionen. Es hat NS-Restbestände im deutschen Verlagswesen gegeben, denken Sie an den Piper Verlag. Es ist Aufgabe eben dieser Institutionen, die eigene Geschichte aufzuarbeiten. Darauf muss man drängen, und dazu wird es unausweichlich kommen. In diesem Kontext würde ich auch die »Todesfuge« sehen.

Spätestens nach den Frankfurter Auschwitz-Prozessen hätte man sie neu lesen müssen.
Auch das hat die Literaturkritik nicht vermocht. Reinhard Baumgart schreibt 1965: »Dieses Gedicht ist zu schön!« Ich frage mich, was daran eigentlich »zu schön« ist. Man hat es wie ein »l’art pour l’art«, Kunst um ihrer selbst willen, lesen wollen – genau das darf man aber mit Celans Lyrik nicht, vielleicht mit gar keiner ernsthaften Lyrik. L’art pour l’art - das wäre schlechte Lyrik. Celan schrieb große Lyrik.

Sie vergleichen die Rezeptionsunwilligkeit gegenüber Celans Lyrik mit den Reaktionen auf Artur Brauners frühen Film »Morituri«, eine der ersten filmischen Darstellungen der Schoa. Der Film floppte. Auch Celan musste lange auf Anerkennung warten.
Artur Brauner, Jahrgang 1918, war ein Zeitgenosse von Celan. Er hat 1948 diesen »Film gegen das Vergessen« herausgebracht. Was war die Folge? Die Kinos, in denen er anlief, mussten ihn absetzen, weil das aufgebrachte Publikum die Säle demolierte, so geschehen in Hamburg und Berlin. Das gleiche Publikum konnte natürlich auch die »Todesfuge« nicht lesen, die im gleichen Jahr erstmals in Wien erschien in Celans erstem Gedichtband »Der Sand aus den Urnen«. Da gibt es so etwas wie eine geheime Parallele. Ich wünschte, beide wären sich begegnet. Artur Brauner hätte die »Todesfuge« verstanden – vielleicht, wer weiß, einen Film daraus gemacht.

Zwölf Jahre später, im Januar 1960, gab es in Westberlin 123 antisemitische Vorfälle, in Nordrhein-Westfalen 167. In dieser Atmosphäre wurde Paul Celan mit dem Büchner-Preis geehrt, hielt seine berühmte Meridian-Rede. Wie hat er selbst dieses Spannungsfeld zwischen Erfolg und Anfechtung wahrgenommen?
Es hat ihn zerrissen. Bei den Erfolgen hat er gemutmaßt, das sei ein Akt von Wiedergutmachung – was es gar nicht war. Celan war ein erfolgreicher Dichter. Seine Gedichtbände haben sich gut verkauft. Er hatte viele Lesungen, mehr Einladungen, als er annehmen konnte. Er wurde mit allen wichtigen Preisen ausgezeichnet, hat auch Preise abgelehnt. Gleichwohl ist diese Anerkennung nicht angekommen gegen die Anfechtung, die man ihm zugesetzt hat in dem Versuch, ihn zu diffamieren, und in dem schon damals grassierenden Antisemitismus. Man täusche sich nicht: Der Antisemitismus von heute ist von gestern.

Wie viel »Todesfuge« ist in Celans späteren Gedichten enthalten?
Es gibt so etwas wie ein Echo der »Todesfuge«. Wir finden es etwa im Gedicht »Engführung«: »Verbracht ins Gelände mit der untrüglichen Spur«. Die untrügliche Spur ist die, die Celan wieder aufnimmt nach der »Todesfuge«. Er verbringt die Lesenden dieses Textes in das Gelände eines Konzentrationslagers. Der Literaturhistoriker Hans Mayer, ein Zeitgenosse Celans, hat die »Engführung« als einen Widerruf der »Todesfuge« verstanden. Und Celan hat ihm erwidert: »Lieber Hans Mayer, ich widerrufe niemals ein Gedicht.« Er hat an diesem Gedicht festgehalten. Wir finden Spuren davon in der »Engführung«, aber auch in den ganz späten Gedichten; von den »ungeschiedenen Meistern« spricht er dort. Bestimmte Schlüsselwörter wie »Stern«, »Tod«, »sterben« kehren immer wieder, erst recht in seinem Spätwerk.

In dem Echo, das Sie beschreiben, klingt das Dialogische an, das diesem Gedicht, wie auch seiner gesamten Lyrik, zugrunde liegt. Worauf führen Sie dieses Prinzip zurück?
Celan sagte einmal, er habe einen Begriff von »jüdischer Einsamkeit«. Diesen Begriff hat er vielleicht für seine ganze Generation formuliert, empfunden und aus dieser Einsamkeit heraus Gedichte geschaffen. Das dialogische Prinzip war ihm von Martin Buber, den er verehrte, bekannt.

Celan hat seine Gedichte als »eine Flaschenpost« bezeichnet …
… aufgegeben in dem gewiss nicht hoffnungsstarken Glauben, irgendwann einmal an Land geschwemmt zu werden, an Herzland vielleicht, sagte er. Er hat sich an jeden einzelnen Leser gewandt, an jeden, an Sie wie an mich. Wir sollten, so hat er sich das vorgestellt, mit unserer eigenen Existenz dieses Gedicht lesen, unter dem Neigungswinkel unserer Erfahrung. Das halte ich für einen ganz radikalen Ansatz. Ihm lag nicht an kollektiven Einschätzungen, Strömungen, Richtungen, Epochen. Ihm ging es um die existenzielle Erfahrung – im Dichten wie im Lesen. Insofern sind wir aufgerufen, die »Todesfuge« nicht wie einen über uns verhängten Text und seine Deutung zu lesen, sondern mit unseren Erfahrungen je individuell zu verstehen und zu deuten, aber auch auf das zu achten, was das Gedicht nötig gemacht hat.

Celan bezeichnete sich selbst als »Wandernder im Dunkel«. Was hat Licht in sein Dunkel gebracht?
Ich glaube, dass die Begegnung mit russischer Dichtung für ihn ganz wichtig war. Er hat gesagt, Ossip Mandelstam sei »der« Metaphysiker der zeitgenössischen Dichtung. Ich würde heute sagen, »der« Metaphysiker der zeitgenössischen Dichtung ist Paul Celan. Er hat Wahlverwandte gefunden – das hat gewiss Licht in sein Dunkel gebracht. Aber wir müssen uns das Dunkel auch sehr groß vorstellen. Sicherlich waren es auch seine Frau Gisèle, eine schwierige, aber doch lebenslange Liebe, sein Sohn Eric, seine Familie, die er hat beschützen wollen, die er zum Schluss nicht mehr hat beschützen können mit seinen eigenen schwindenden Kräften.

Gibt es so etwas wie eine Quintessenz aus Paul Celans Werk?
Das ist vielleicht sein Satz: »Geh in die Dichtung mit deiner allereigensten Enge. Und versteh das Gedicht immer neu und wie du es selbst verstehst.«

Was wird von der Todesfuge bleiben?
Am Ende seines Lebens, als Celan vielleicht selbst gar nicht wusste, dass es das Ende ist, hat er in einem Gespräch mit Gerhart Baumann in Zürich von seinen Gedichten als »Entwürfen kommender Erinnerung« gesprochen. Ich glaube, so sollten wir die »Todesfuge« verstehen: als Entwurf einer Erinnerung zukünftiger Generationen an das, was geschehen ist.

Die Todesfuge ist also ein offener Text?
Ja. Sie sehen das an der künstlerischen Wirkung dieses Gedichts – bis hin zu den »Schwarze-Milch«-Porzellaninstallationen und zur »Bibliothek des Exils« von Edmund de Waal. Die »Todesfuge« setzt Energien frei, von denen wir heute noch gar nicht wissen, welche es in Zukunft noch geben wird.

Mit dem Autor sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

Thomas Sparr: »Todesfuge – Biographie eines Gedichts«. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020, 336 S., 22 €

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