Interview

»Eine sehr emotionale Reise«

Mikhal Dekel über die Flucht ihres Vaters von Polen nach Teheran, Wandel von Identität und Zuspruch von Iranern

von Knut Elstermann  04.08.2021 13:56 Uhr

»Es ist ein optimistisches Buch, allein schon durch die Tatsache, dass ich es als Tochter eines Überlebenden schreiben konnte«: Mikhal Dekel Foto: Massimo Rodari

Mikhal Dekel über die Flucht ihres Vaters von Polen nach Teheran, Wandel von Identität und Zuspruch von Iranern

von Knut Elstermann  04.08.2021 13:56 Uhr

Frau Dekel, in Ihrem Buch »Die Kinder von Teheran. Eine lange Flucht vor dem Holocaust« nehmen Sie die Fluchtgeschichte Ihres Vaters als Ausgangspunkt für eine umfangreiche und detaillierte Schilderung einer historischen Dimension. Wie kam es dazu?
Das Buch begann als Arbeit über meinen Vater, ganz einfach und fast beiläufig. Aber während der Recherche öffnete sich vor meinen Augen die Geschichte, und sie wurde immer umfangreicher. Ich verstand, dass ich etwas erzähle, das nicht nur meinem Vater gehört, sondern all diesen Menschen. Es wurde mehr als eine Geschichte von Flüchtlingen. Es entstand eine geopolitische Geschichte, die mit dem britischen Empire, dem Reich der Sowjetunion, den Nachkriegsstaaten zu tun hat, mit den verschiedenen politischen Bewegungen, den Hilfsorganisationen und so weiter. Ich begriff mehr und mehr, dass ich diese persönliche Geschichte nicht ohne den großen historischen Zusammenhang erzählen kann. Ohne diesen Kontext können wir auch das persönliche Schicksal meines Vaters nicht begreifen.

So wurde das Buch glücklicherweise beides – es ist die Geschichte Ihres Vaters, aber auch eine Epochenschilderung. Was erfuhren Sie als Kind in Israel von dem dramatischen Lebensweg Ihres Vaters?
Nicht sehr viel. Ich wusste, dass er zu den sogenannten Kindern von Teheran gehörte, aber meine Vorstellungen waren sehr fantastisch, so als sei er von Polen mit einem Zwischenstopp in Teheran direkt nach Palästina gebeamt worden. Ich wusste fast nichts über sein Leben vor dem Krieg in Polen, mein Vater sprach nicht darüber. Wäre er in Auschwitz gewesen, hätte ich eine gewisse Vorstellung davon gehabt, durch das, was ich darüber gelesen hatte, durch das allgemein verfügbare Wissen. Aber all das gab es über das Exil in Usbekistan und Teheran nicht. Es ist die Geschichte meines Vaters, aber sie ist allgemeingültig. Ich habe durch das Buch mit vielen Kindern und Enkeln gesprochen, es war überall so: Die Überlebenden sprachen nicht.

Wie erklären Sie sich dieses Schweigen Ihres Vaters und der anderen Kinder von Teheran?
Es gab mehrere Gründe für diese Geschichte des Schweigens, vor allem war es der Vergleich mit den Todeslagern. Als mein Vater und die anderen Kinder von Teheran 1943 nach Palästina kamen, wurden sie als Überlebende betrachtet. Sie sahen furchtbar aus, waren in schlechter Verfassung, und man kümmerte sich um sie. Zwei Jahre später wurde bekannt, was in den Nazi-Lagern geschehen war, und auf einmal galten die Kinder von Teheran als die Glücklichen, denn sie waren nicht ermordet worden, sie konnten fliehen. So gab es die allgemeine Vorstellung, dass diejenigen, die den Holocaust nicht unter den Nazis erlebt haben, Glück hatten. Aber wie man in meinem Buch lesen kann, hatten sie nur Glück verglichen mit dem Massenmord. Unter anderen Umständen könnte man ihr Schicksal nicht so nennen.

Ich habe Ihr Buch als einen Beitrag zur Geschichte des Holocaust gelesen, auch wenn Sie nicht über die Vernichtungslager schreiben, sondern über jahrelange Flucht­erfahrungen.
So ist es, aber bisher wurde das nicht so gesehen. Deutschland hat keine Entschädigung an diese Menschen gezahlt, sie wurden juristisch nicht als Überlebende des Holocaust anerkannt. Auch sie selbst sahen sich nicht so, viele von ihnen haben es mir nach Lesungen aus dem Buch und bei Veranstaltungen gesagt. Ich erhalte jetzt Briefe und Lebenserinnerungen. Das Buch trägt dazu bei, diese Menschen als Überlebende zu betrachten.

Sie berichten von polnischen Juden und polnischen Katholiken im sowjetischen und iranischen Exil, vom Weg der Geflüchteten nach Palästina und der Gründung Israels, aber auch von den Völkerschaften, die Stalin willkürlich umsiedelte. So sehe ich in Ihrem Buch ein wichtiges Thema, das uns heute sehr umtreibt, die Frage nach der Identität, die damals ständig neu bestimmt werden musste.
Ja, danke, dass Sie das ansprechen. Gerade heute, wo wir sehr verengt auf Identität schauen, decke ich hier vielleicht die Geschichte der Identität auf, all diese verschiedenen Wendungen, die sie nehmen kann. Wir erben unsere Identität, und sie scheint sehr stabil zu sein, in Wirklichkeit ist sie das nicht. Ich zum Beispiel bin israelisch und lebe in den USA. Aber es könnte auch eine usbekische Mikhal geben oder eine russische, es gab so viele Wendepunkte im Leben meines Vaters. Besonders in der Epoche, die ich beschreibe, gab es eine Art Ground Zero der Identitäten, alles geriet in Bewegung. So war die jüdische Identität oft mit einer polnischen Vorkriegsidentität gemischt. Diese Verbindung löste sich später. All dem gehe ich nach. Es geht hier nicht um zufällige Ereignisse. Ich versuche, zu zeigen, welche politischen Kräfte am Werk waren, die letztlich diese Identitäten hervorbrachten.

Sie beschreiben das Leben Ihres Vaters sehr eindrucksvoll als einen Weg zwischen zwei Staaten, vom alten Vorkriegspolen, das von den Nazis ausgelöscht wurde, zum neu entstehenden Staat Israel. Das umfasst im Grunde eine ganze Generationserfahrung.
Das ist richtig, es geht auch um diesen Blick auf etwas, das nicht mehr existiert. Es beschreibt aber auch die Erfahrung meiner Großeltern, die nach Polen zurückkehrten und dort unerwünscht waren. Ihre Welt war verschwunden. Manche der Heimkehrer wurden ermordet. Mein Buch ist auch eine Wiederbelebung dieser Welt und dieses Lebens. Viele Überlebende sagen mir heute: »Ich habe keine Heimat mehr, sie existiert nur noch in meiner Vorstellung.« Das trifft sogar auf meinen Vater zu, der ganz dem Zionismus und Israel ergeben war. Aber es blieb immer eine gewisse Fremdheit.

Erschütternd sind die Schilderungen der Leiden jüdischer Flüchtlinge in Sibirien und im sowjetischen Teil von Zentralasien, des Hungers, der Ablehnung. Was waren die Ursachen? Die Unmenschlichkeit des stalinistischen Systems und dazu noch die Entbehrungen für alle im Krieg, die für die Geflüchteten aber besonders schmerzhaft waren?
Ich denke, es kam hier wirklich beides zusammen. Das System existierte ja schon vor dem Krieg. Stalin versuchte, Usbekistan von einem Agrarland in die Monokultur einer Baumwollregion zu verwandeln, wodurch die Menschen nichts mehr zu essen hatten. Es gab also schon diese Experimente mit der Bevölkerung, dann kam der Krieg mit all seinen Einschränkungen. Um die Armee zu versorgen, opferte man gewissermaßen die Versorgung der Zivilbevölkerung. Die polnischen Flüchtlinge – und ganz besonders die jüdischen – waren die schwächsten. Auch die Einheimischen hungerten, doch sie kannten Wege, um an Nahrung zu gelangen. Die Flüchtlinge konnten das nicht. So kam es um 1941/42 zu einem Massensterben in Zentralasien.

Dann der erstaunlichste Fakt des Buches. Jüdische Flüchtlinge überlebten im Iran, heute der Todfeind Israels. Wie viele Juden waren es insgesamt?
Das ist nicht einfach zu sagen; seitdem das Buch erschienen ist, habe ich von noch mehr Fällen erfahren. Neben den Geflohenen aus Polen wie mein Vater kamen auch viele Menschen mit gefälschten Papieren illegal in den Iran, das mögen einige Hundert mehr gewesen sein, als ich zunächst annahm. Es waren insgesamt etwa 3000 bis 4000 Menschen. Dazu kommen auch deutsche Juden, über die ich erst mehr nach meinem Buch erfahren habe und deren Zahl nur sehr schwer zu schätzen ist. Es könnten Hunderte, aber auch Tausende gewesen sein. Aber letztlich bleibt: Der Iran hat das Leben dieser Menschen gerettet.

Wie war das Verhältnis der Iraner zu den jüdischen Flüchtlingen?
Grundsätzlich war es gut. Die Leute damals waren »die Polen«, vielen war gar nicht klar, dass es Juden darunter gab. Die Flüchtlinge erinnern sich, dass es gerade am Anfang auf der persönlichen Ebene sehr viel Freundlichkeit gab. Nach 1941, als die Sowjetunion und die Briten den Iran kontrollierten, wurde es auch viel freier, die Juden gingen in die Synagogen, und Teheran erwachte als Stadt. Es war sehr unterschiedlich. Manche Regionen waren antijüdisch, aber insgesamt war es für die Geflüchteten eine gute Zeit. Auch für den Iran begann übrigens eine gute Epoche, die bis 1979 andauerte. Die Ankunft der Juden im Iran öffnete die Gesellschaft, so kamen auch jüdische Hilfsorganisationen ins Land. Es war für die Juden eine kosmopolitische und sichere Zeit.

Wie sehen die Iraner das heute?
Ganz genau lässt sich nicht sagen, was die Leute denken, aber sicher muss man hier unterscheiden zwischen der Regierung und den Menschen im Land. Wenn ich mit Iranern spreche, die im Exil leben und gegen das Regime eingestellt sind, spüre ich eine Freude bei ihnen, dass es diese relativ positive Geschichte über den Iran gibt. Ein iranisches Studio in London, »Iran Wire«, hat einen kurzen Film über mein Buch gemacht, in der Hoffnung, damit vielleicht Informationen über den Holocaust in den Iran zu bringen und etwas gegen den Antisemitismus zu tun. Mir haben Iraner aus der ganzen Welt geschrieben, und alle sind sehr bewegt, dass es dieses Buch gibt.

Bitte schildern Sie mir Ihren Schreibprozess. Sie nehmen uns gewissermaßen auf die intensiven Recherche-Reisen mit, lassen uns teilhaben an Ihren Erfahrungen und Begegnungen.
Es dauerte lange, bis ich den richtigen Ton und die passende Methode für das Buch gefunden hatte. Ich habe mehr als zehn Jahre daran gearbeitet, ich war eine Sklavin dieses Projekts. Als ich mich mit meiner Lektorin vom amerikanischen Verleger W. W. Norton & Company traf, sagte sie: »Wir wollen eigentlich nichts von Ihnen wissen, wir brauchen keine weitere Sicht aus der Zweiten Generation. Wir wollen nur diese historische Abhandlung.« Da ich unbedingt in diesen von mir sehr geachteten Verlag wollte, habe ich es zunächst so geschrieben, wie sie es verlangten und mich herausgenommen. Nach den ersten zwei, drei Kapiteln meinte meine Lektorin: »Sie hatten recht, das ist total langweilig, bringen Sie sich bitte wieder zurück in die Geschichte.« Das war wirklich eine große Herausforderung für mich, auch weil es nicht viele Vorbilder dafür gibt. Ich wollte von Anfang an deutlich machen: Man kann alles wissen, aber man muss sehr hart dafür arbeiten, sehr viel Recherche betreiben. Es ist wirklich eine unbekannte Geschichte. Ich wollte den Leser mitnehmen, auch auf die Umwege. Um auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen: Bei der historischen Recherche auf den Lebensspuren meines Vaters bin ich zugleich auf eine sehr emotionale Reise gegangen, beides gehört zur Essenz des Schreibens.

Welche Hoffnungen verbinden Sie mit Ihrem Werk?
Das ist auf jeden Fall ein optimistisches Buch, allein schon durch die Tatsache, dass ich es als Tochter eines Überlebenden schreiben konnte. Aber es ist auch realistisch. Es versucht, jüdische Geschichte in einen sehr viel größeren Zusammenhang zu stellen, es will in einen Dialog mit Menschen treten, die vielleicht ganz andere Ansichten haben. Im Buch geht es darum, die historische Wahrheit zu erkennen und von dort aus weiterzugehen. Ich will wegkommen von diesen Vereinfachungen, den Dämonisierungen des Iran und auch Israels.

Mit der Literaturwissenschaftlerin sprach Knut Elstermann.
Mikhal Dekel: »Die Kinder von Teheran. Eine lange Flucht vor dem Holocaust«. wbg Theiss, 440 S., 28 €

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