Nachruf

Eine große Denkerin Europas

Ágnes Heller in ihrer Wohnung am Gutenberg-Platz in Budapest vor einem Bild des zeitgenössischen Malers László Fehér, 2011 Foto: imago/EST&OST

Sie war eine der großen Denkerinnen Europas, die, wie es sich ergab, auch eine jüdische Denkerin war und es im Laufe ihrer langen und ruhmreichen Laufbahn stets verstanden hat, das eine mit dem anderen zu verbinden: Ágnes Heller, nun seligen Angedenkens, 1929–2019.

Herkunft Geboren wurde sie in Budapest, als Kind eines verhinderten Pianisten, der aus Familienrücksichten Jura hatte studieren müssen und im immer judenfeindlicheren Ungarn sowohl wegen seiner persönlichen Lauterkeit als auch wegen seiner Abstammung immer weniger zum Familieneinkommen beitragen konnte, und einer tüchtigen Putzmacherin, die mit ihren Hutkreationen den Lebensunterhalt der Familie bestritt.

Was der bürgerlichen Familie eine traditionell jüdische Beziehung bescherte: die emsige Mutter und der (hier zwangsweise) aufs »Lernen« beschränkte Vater, der die Zeit nutzte, der Tochter den eigenen geistigen Reichtum zu vermitteln und ihr die Liebe zu all dem einzupflanzen, was ihm im Leben wichtig schien: Moral, Kultur, Kunst, und da vor allem Musik und Literatur, darunter auch die deutsche, die er – im damaligen Ungarn unter bürgerlichen Juden ziemlich selbstverständlich – im Original las.

Sprache Ágnes Heller, die als Kind viel Zeit bei einer Wiener Großmutter verbracht hat, meinte später, Deutsch sei eigentlich ihre erste Sprache gewesen, sie habe sie nur vergessen. Die ungarischen Juden galten lange als die »sichersten« in Nazi-Europa – ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt, aus ihren Berufen getrieben, für jedes Übel der Gesellschaft haftbar gemacht, doch angesichts der offensichtlich bevorstehenden deutschen Niederlage vom Äußersten, dem organisierten Massenmord, verschont.

Bis am 19. März 1944 die deutschen Truppen einmarschierten. Und Ungarn »seine« Juden in einer beispiellosen Mordaktion, unter Einsatz aller logistischen und verwaltungstechnischen staatlichen Mittel, in die Vernichtungslager deportierte, eine halbe Million Menschen in wenigen Wochen. Auch wenn die Juden Budapests, in der sicheren Annahme, dass sie doch nicht entkommen könnten, bis zuletzt »aufgespart« wurden – die Transporte liefen auch in der Hauptstadt an.

Heller schrieb viel, aber ihr Lieblingsmedium war das gesprochene Wort.

Unter den vielen Abgeholten und Verschickten war auch Ágnes Hellers Vater. Dass ein Unbekannter (oder eine Unbekannte) seinen aus dem Deportations-Waggon geworfenen Abschiedsbrief an die Familie in einen Umschlag gesteckt, frankiert und adressiert hat, hat sie stets als besondere Gnade empfunden. Die organisierte Verschickung wurde dann auf internationalen Druck hin durch Todesmärsche und auf eigene Faust operierende Mordkommandos abgelöst.

Donauufer So war die 15-jährige Ágnes bereits Halbwaise, als ihr das Schlüsselerlebnis widerfuhr, das, ihrer eigenen Mitteilung zufolge, ihr ganzes weiteres Leben geprägt hat: als man sie mit ihrer Mutter am Donauufer aufstellte, um sie zu erschießen.

Zum einen, weil sie ihre Chancen und Möglichkeiten genau bedachte – sie wollte im entscheidenden Augenblick in die Donau springen, um im Wasser, in dem sie sich schon damals sicher fühlte, abzutauchen und davonzuschwimmen; zum anderen, weil sie da entschied, sich nie mehr vor irgendetwas oder gar irgendjemandem zu fürchten.

Ihr Schicksal erscheint wie die positive Variante einer Geschichte von Jorge Luis Borges, in der ein jüdischer Schriftsteller vor einem Nazi-Erschießungskommando durch göttlichen Eingriff in sein Zeitempfinden die Möglichkeit bekommt, sein Lebenswerk, eine Tragödie, fertigstellen zu können, ehe ihn die tödlichen Kugeln erreichen.

Lebenswerk Die Kugeln haben sie nicht erreicht – sie und ihre Mutter wurden als Letzte in der Kolonne laufen gelassen, so zufällig, wie sie und die anderen festgenommen und zum Tode bestimmt worden waren –, doch wie Borges’ Schriftsteller hat die 15-Jährige die ihr geschenkte Zeit für ein stolzes Lebenswerk genutzt.

Die spätere Ehrendoktorin der Ben-Gurion-Universität war so entschieden Jüdin, dass sie als junge Studentin von der Alija nur absah, weil dies, der damaligen Dok­trin entsprechend, eine Konzentration auf landwirtschaftliche Fertigkeiten bedeutet hätte und sie nicht anders konnte und wollte, als ihren beeindruckenden analytischen Verstand kreativ zu nutzen.

Dekanin So wurde sie Meisterschülerin und Mitarbeiterin des marxistischen Denkers Georg Lukács (der ihrem Lieblingsschriftsteller Thomas Mann als Vorbild für seinen »Naphta« im Zauberberg gedient hatte), um dann, genau wie ihr Lehrer, bei der realsozialistischen Regierung der Zeit in Ungnade zu fallen und schließlich über den Umweg Australien den Lehrstuhl von Hannah Arendt in New York zu erben und nach dem Fall des Kommunismus Dekanin der philosophischen Fakultät der Universität Budapest zu werden.

Sie besaß die Gabe, Angriffe ungerührt an sich abprallen zu lassen.

Wo sie, als geradezu prototypische Vertreterin des »libsi« (sprich »Libschi« = »liberalen Juden«) öffentlich als »Jüdin« beschimpft wurde, was sie, wie sie mit der ihr eigenen Präzision erklärte, als Jüdin absolut kaltließ – aber als Ungarin beschämte.

Sie wurde öffentlich als Haupt einer ominösen »Viererbande« verunglimpft, die, wie anders, die von ihrem Institut verwalteten Forschungsgelder veruntreut hätte – während das Ergebnis der hochnotpeinlichen Untersuchung, die ihre musterhafte Lauterkeit in Finanzdingen erwies, von den staatsfreundlichen Medien deutlich tiefergehängt wurde.

Gabe Sie besaß die Gabe, Angriffe ungerührt an sich abprallen zu lassen: In der schönen Formulierung eines ungarischen Heller-Verehrers hat die Tochter der Putzmacherin »die auf sie geschossenen Giftpfeile als Hutnadeln genutzt« (wobei man unwillkürlich an die Hüte denkt, die sie wirklich sehr gerne trug), während sie die ihr infolge ihres Ruhmes und ihrer Bekanntheit zufallenden Mittel als »Jetons« empfunden habe, die sie einsetzte, um das zu tun, was sie gerne tat: reisen, Kunst genießen, Opernaufführungen besuchen, in Konzerte gehen.

Doch ihr eigentlicher Beruf und ihre Berufung war das Katheder, das Vermitteln von Wissen, wobei sie genauso selbstverständlich bei Limmud-Meetings auftrat wie bei hochkarätigen Diskussionspanels und an Universitäten.

Und auch, wenn sie viel und Wichtiges geschrieben hat – ihr Lieblingsmedium war das gesprochene Wort, die Möglichkeit, das eigene Wissen und Denken im persönlichen Austausch zu vermitteln. Was angesichts des im Kern aus Gesprächsprotokollen bestehenden Talmud ja eine sehr jüdische Eigenheit ist.

Limmud-Tag Ein persönliches Erlebnis vom letzten Berliner Limmud-Tag im November 2018 sei hier eingefügt, wo Ágnes Heller ihre »vortragsfreie« Zeit nutzte, um andere Vorträge zu besuchen – und sich begeistert und enthusiastisch an der Talmudstunde eines jungen, vorzüglich vorbereiteten britischen Bochers beteiligte.

Jeder Anstrich von Höflichkeit, mit der sie anderes über sich ergehen ließ, war gewichen: Die fast 90-Jährige griff jede Frage auf, versuchte, wie verlangt, die geforderten Antworten zu finden, und gratulierte dem jungen Mann zuletzt begeistert für seine Stringenz und gedankliche Sachkompetenz.

Da – beim Bemühen um Genauigkeit, Abwägen von Positionen, Schlussfolgern und Rückbesinnen – fühlte sie sich offensichtlich zu Hause, und man tut ihr gewiss nicht unrecht, wenn man zumindest ihre Begabung – wenn schon nicht ihr Denken, wo sie sich, wie Moses Mendelssohn, eher einer über Religions- und Nationalzugehörigkeiten stehenden »Gelehrtenrepublik« zugehörig fühlte – als eminent »jüdisch« bezeichnet.

Die Werte des Liberalismus verteidigte sie unbeirrt.

Doch wie Moses Mendelssohn hat auch sie entschieden zu tagespolitischen Fragen Stellung genommen, wenn ihr Grundsätzliches wie die Freiheit des Denkens und des Lehrens bedroht schien, und ist damit von einer anerkannten Denkerin zur internationalen Figur geworden.

interviews Sie hat die Werte des »Liberalismus« gegen die »illiberale Wende« hochgehalten und unbeirrt verteidigt, was sie, wie bei ihrer Lehrtätigkeit, ohne Ansehen ihrer Zuhörer tat, ob bei einer nachmittäglichen Versammlung für Studenten, vor einem Fernsehpublikum oder vor Politikern wie Emmanuel Macron. Mit ihrer unbändigen, unerschöpflich scheinenden Energie, die sich drei Interviews an einem Vormittag zumutete, erinnerte sie noch in hohem Alter an die 15-Jährige vom Donauufer.

Das Einzige, was sie, eigenem Eingeständnis nach, ungern tat, waren Krankenbesuche. Nun, Siechtum und Krankheit sind ihr erspart geblieben. Wie beim jüdischen Dichter von Borges hat ihre Geschichte da geendet, wo sie begann; die begeisterte und sichere Schwimmerin ist, wie sie es sich als 15-Jährige vorgenommen hatte, abgetaucht – nicht in die Donau, sondern in »ihren« See, den Balaton, in der Nähe des Ortes, wo ihre mütterliche Familie herstammt.

Ágnes Heller, die weltbekannte jüdisch-ungarische Philosophin, ist am 19. Juli 2019, gut zwei Monate nach ihrem 90. Geburtstag, durch einen Sportunfall ums Leben gekommen.

Der Autor ist Regisseur, Publizist und Übersetzer.

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