ESC

Ein Lied geht um die Welt

Der diesjährige Eurovision Song Contest (ESC) in Tel Aviv, witzelte kürzlich der städtische Beauftragte für Tourismusförderung, Eytan Schwartz, sei das aufregendste Ereignis, seitdem Moses die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai erhalten habe. Während des Wettbewerbs, so die Hoffnung von Schwartz und vielen anderen, wird die Welt nicht die gewohnten Bilder von politischem Konflikt und religiösem Fanatismus präsentiert bekommen, sondern die sonnenverwöhnten Strände von Tel Aviv und das liberale, demokratische und weltoffene Israel.

Tatsächlich bietet der jährliche Song Contest den beteiligten Ländern eine Bühne der Selbstinszenierung, die weit über die reine Tourismuswerbung hinausgeht. In den 90er-Jahren etwa nutzten viele der ehemaligen Ostblockstaaten den Wettbewerb, um die Werbetrommel für ihre Mitgliedschaft in der EU zu rühren. Nun liegt der jüdische Staat bekanntlich außerhalb der geografischen Grenzen Europas. Und dennoch stellte die Eurovision auch für Israel als Mitglied der Europäischen Rundfunkkommission immer wieder eine wichtige Plattform der Selbstdarstellung dar und kann daher durchaus Einblicke in die europäisch-israelischen Beziehungen geben.

1983 sang Ofra Haza im Land der ehemaligen Täter: »Am Israel Chai!«

Bereits seit 1973 beteiligt sich das Land an dem Spektakel. Nur wenige Jahre danach – und den sich in jener Zeit verschlechternden politischen Beziehungen zwischen Europäischer Gemeinschaft und dem jüdischen Staat zum Trotz – gelang den Israelis ein besonderer Coup: Gleich zweimal hintereinander gewann das Land 1978 und 1979 den Wettbewerb – ein Erfolg, den nur wenige der teilnehmenden Nationen für sich verbuchen können.

Nachdem Izhar Cohen mit dem Song »A-Ba-Ni-Bi« in Paris 1978 den ersten Platz geholt hatte, kam der Eurovision am 31. März 1979 nach Jerusalem. Nur wenige Tage zuvor hatten Menachem Begin und Anwar as-Sadat den israelisch-ägyptischen Friedensvertrag in Washington unterzeichnet. Die »Friedenseurovision« stand ganz im Eindruck dieser Ereignisse. Teddy Kollek, der damalige Bürgermeister von Jerusalem, schlug seinen internationalen Gästen vor, den Wettbewerb im nächsten Jahr in Kairo zu veranstalten, und Gali Atari und die Band Milk & Honey schmetterten erfolgreich ihr »Halleluja« in die Welt hinaus. Nicht einmal die deutschen Horden, die in Gestalt des »weltberühmten Holocaust-Mongolen Dschingis Khan« (so kommentierte der »Spiegel« damals) in Jerusalem einfielen, konnten die Feier stören.

Die Israelis waren so elektrisiert von ihrem erneuten Sieg, dass sie einen Aprilscherz des israelischen Radios, demzufolge »Halleluja« künftig die »Hatikwa« als offizielle Nationalhymne ersetzen würde, nicht als solchen erkannten. Schließlich sah sich sogar Menachem Begin genötigt, zu der Falschmeldung Stellung zu nehmen.

»HORA« Doch die Freude über Frieden mit Ägypten und europäische Anerkennung verflogen bald. Einer schweren wirtschaftlichen Rezession, bitteren innenpolitischen Auseinandersetzungen und schließlich dem Ausbruch des Libanonkrieges begegneten Israelis mit dem Rückgriff auf nationale Werte und Kultur. Avi Toledano führte 1982 in England mit seinem Beitrag »Hora« israelische Volkstänze auf, und als dank der friedliebenden Nicole der ESC dann ein Jahr später nach München kam, verkündete die israelisch-jemenitische Jüdin Ofra Haza im Land der ehemaligen Täter: »Am Israel Chai!« – Das Volk Israel lebt. Während Toledo und Haza jeweils mit dem zweiten Platz große Erfolge verbuchen konnten, sank in den nächsten Jahren nicht nur die Qualität der Beiträge, sondern auch das allgemeine israelische Interesse an der Eurovision ließ erheblich nach.

Der Musikwettbewerb ist immer auch ein Spiegel der europäisch-israelischen Beziehungen.

Die 90er-Jahre schließlich brachten den Israelis den Friedensprozess mit den Palästinensern, und auch Europa richtete sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neu aus. Wohl kaum jemand symbolisierte diese Veränderungen stärker als die transsexuelle Dana International, die 1998 mit ihrem Song »Diva« ihrem Heimatland den dritten Sieg bescherte. Nicht nur Israelis waren entzückt – auch die internationale LGBT-Community feierte ihre Heldin. Israelischen Diplomaten eröffnete der Sieg die Gelegenheit, ihr Land deutlich vom homophoben Grundkonsens der Region abzugrenzen. Israel und Europa, so schien es, hatten sich angenähert.

Im Land selbst jedoch brodelte ein unerbittlicher Kulturkampf. Der stellvertretende Gesundheitsminister der orthodoxen Schas-Partei, Rabbi Shlomo Benizri, bedauerte in beißendem Ton, dass sein Land mit solch einer »Abscheulichkeit«, wie sie »nicht einmal in Sodom vorgekommen« wäre, »Dunkelheit über die Nationen der Welt« brächte. Zumindest in diesem Punkt bewies der Rabbiner eine größere geistige Nähe zu den muslimischen und christlichen Kollegen der Region als zum »Sündenpfuhl« Tel Avivs.

Tatsächlich begrub wenige Jahre später der Ausbruch der Al-Aksa-Intifada jegliche Hoffnungen auf Frieden und eine weitere gesellschaftliche Öffnung des Landes. Dies schlug sich auch in der Eurovision nieder. Hatte noch im Mai 2000 die Band Sameach provokativ syrische Fahnen geschwenkt, so machten viele Beiträge der Folgejahre einen eher melancholischen Eindruck. Auch der erste Auftritt einer arabischen Israelin, in dem Miri Awad und ihre jüdische Kollegin Achinoam Nini gemeinsam einen »anderen Weg« beschworen, konnte sich dieser Stimmung nicht entziehen.

Netta traf in Zeiten
 von #MeToo den europäischen Zeitgeist.

Der Verzweiflung folgte die Flucht ins Unpolitische und den Kitsch – nicht selten begleitet von Musikvideos, die mit ihrer Darstellung israelischer Nationalparks und am Tel Aviver Strand planschender »Golden Boys« (so der Titel des Beitrags von 2015) durchaus als Werbung der Tourismusbranche verstanden werden konnten.

Erst Netta Barzilai brachte wieder sozialkritische Töne auf die Bühne und traf in Zeiten von #MeToo den europäischen Zeitgeist. Aber nicht alle waren darüber erfreut. Die Debatten, die in den folgenden Monaten um einen Boykott der Party in Tel Aviv geführt wurden, sind Ausdruck fortschreitender gesellschaftlicher und politischer Polarisierungen. Auch solche Töne sind allerdings nicht neu in der Geschichte des ESC, der von Boykottaufrufen gegen dessen Ausrichtung in Francos Spanien 1969 bis zu friedlichen Protesten gegen die Politik Putins in Moskau 2009 immer wieder Bühne politischer Auseinandersetzung wurde.

Zu hoffen bleibt jedenfalls, dass der Wettbewerb trotz des letzten Dauerbeschusses aus Gaza friedlich vonstattengehen kann – und inklusive aller Harmonien und Misstöne den europäisch-israelischen Dialog weiterhin kulturell bereichern wird.

Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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