Viele Freunde im jüdischen Establishment hatte Tony Judt nicht. Dafür hatte er spätestens 2003 gesorgt, als er in einem viel diskutierten Essay in der New York Review of Books den jüdischen Charakter Israels einen »Anachronismus« nannte und an dessen Stelle für einen binationalen, säkularen jüdisch-palästinensischen Staat plädierte. Die erbittert geführte Diskussion darüber schlug Wellen bis in die deutsche Provinz. Als Judt 2007 den Bremer Hannah-Arendt-Preis erhielt, protestierte die dortige jüdische Gemeinde.
sozialdemokrat Dabei war Tony Judt kein rabiater Israelhasser. Der 1948 in London geborene Sohn osteuropäischer Einwanderer war in seiner Jugend aktiver Zionist gewesen, zwei Jahre lang sogar Generalsekretär der britischen Sektion von Habonim Dror, der Jugendbewegung der Arbeiterzionisten. Er arbeitete während seiner Schulferien in Kibbuzim und meldete sich im Sechstagekrieg 1967 freiwillig als zivile Hilfskraft zur Zahal. Was ihm – wie vielen seiner Generation und Herkunft – damals allerdings unangenehm aufstieß, war der nationalistische Triumphalismus, der sich in Israel nach dem Sieg breitmachte. Damit konnte sich Judt, der sozialdemokratische Universalist, nicht anfreunden. Ideologien und Identitätspolitik waren seine Sache nicht. Israel wurde ihm zunehmend fremder.
Die Kontroversen über Judts Verhältnis zur israelischen Politik in den letzten Jahren ließen in der öffentlichen Wahrnehmung seinen eigentlichen Schwerpunkt in den Hintergrund treten. Tony Judt war ein führender Zeithistoriker. Nach seinem Studium in Cambridge und an der Pariser Ècole Normal Supérieure promovierte er 1976 mit einer in Fachkreisen viel beachteten Dissertation über die Rekonstruktion der französischen Sozialistischen Partei nach dem Bruch mit den Kommunisten 1921. Es folgten weitere Studien zur französischen und internationalen Sozialdemokratie. Über den Kreis der Historiker hinaus bekannt wurde Judt, der an der New York University lehrte, mit seiner monumentalen, dabei eminent lesbaren Geschichte des Nachkriegseuropas Postwar 2005 (deutsch ein Jahr später bei Hanser erschienen), die für einen Pulitzerpreis nominiert wurde.
krankheit Zwei Jahre später erkrankte Judt an Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Die Krankheit zersetzt die Nervenzellen in der Wirbelsäule, führt zu kompletter Lähmung und zum Verlust der Sprechfähigkeit. Dabei bleiben die kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen unberührt. »Im Gegensatz zu fast jeder anderen ernsten oder tödlichen Krankheit kann man deshalb in Ruhe und bei minimaler Unbequemlichkeit das katastrophale Fortschreiten des eigenen Verfalls beobachten«, schrieb Judt – mit der für ihn charakteristischen ironischen Distanz – in einem Essay in der New York Review im Januar dieses Jahres. Die Krankheit hinderte ihn nicht daran, sich weiterhin wissenschaftlich und essayistisch zu betätigen. Noch im März erschien Ill fares the Land, ein engagierter Aufruf, zu den klassischen Werten der europäischen Sozialdemokratie zurückzukehren.
Tony Judt war kein Polemiker, der Streit suchte. Aber er scheute die Auseinandersetzung nie. »Die Aufgabe des Historikers ist es nicht, zu stören um des Störens willen, sondern eine fast immer unangenehme Wahrheit auszusprechen und zu erklären, warum dieses Unangenehme Teil der Wahrheit ist, die wir brauchen, um gut und richtig zu leben«, war sein Credo. Vergangenen Freitag ist Tony Judt im Alter von 62 Jahren in New York an den Folgen von ALS gestorben.