Rezension

Ein ausgesetztes Frühchen und ein toter Tourist

Dror Mishani vor einer Lesung beim Krimifestivals »Crime Cologne« 2019 in der Synagogen-Gemeinde Köln Foto: imago images/Future Image

Rezension

Ein ausgesetztes Frühchen und ein toter Tourist

Im neuen Krimi von Dror Mishani ermittelt Oberinspektor Avi Avraham erneut in Holon

von Ellen Presser  12.06.2022 19:00 Uhr

2013 lernten deutschsprachige Krimi-Freunde den israelischen Ermittler Avi Avraham erstmals kennen. Er war damals 38 Jahre alt, alles andere als ein Womanizer und hatte sich immer noch nicht wirklich von seinen Eltern abgenabelt. Die Ermittlung Vermisst galt einem spurlos verschwundenen 16-Jährigen. In seinem nächsten Fall untersuchte er Die Möglichkeit eines Verbrechens, denn eine Frau war verschwunden, eine andere krankenhausreif geschlagen. Im dritten Roman Die schwere Hand ist Avraham bereits zum Leiter des Ermittlungsdezernats von Holon-Ayalon aufgestiegen.

GEWALT GEGEN FRAUEN Die Gewalt gegen Frauen hat nicht abgenommen. Im Gegenteil, dieses Mal ging es um Vergewaltigungen und – wie immer wieder früher oder später – um Mord. 2019 drehte sich in dem vierten Fall Drei alles um Vertrauen. Wo dieses ausgenutzt wird, spaltet sich die Welt in Betrüger und Betrogene, Täter und Opfer. Dabei verschwimmen die Grenzen oft zwischen beiden Kategorien.

Nicht anders sieht es im jüngsten Werk von Dror Mishani aus, das bezeichnenderweise den Titel Vertrauen (hebräisch: Emuna) trägt. Avi Avraham ist mittlerweile glücklich verheiratet mit der Nichtjüdin Marianka; seine Eltern leben noch, allerdings ist sein Vater inzwischen ein Pflegefall. Avrahams Vorgesetzte Ilana Liss, mit der er eng zusammenarbeitete, zog sich ohne erkennbare Gründe schon Monate vor ihrem Tod vollkommen von ihm zurück.

Und so hat der Oberinspektor mit einem neuen Vorgesetzten namens Benny Saban zu tun, den er inzwischen »mehr mochte, als er bei ihrer ersten Begegnung für möglich gehalten hätte«. Trotzdem spielt er ernsthaft mit dem Gedanken, zu Europol nach Brüssel zu wechseln. Denn »die meisten Fälle, in denen er in den letzten Jahren ermittelt hatte, waren tragische Gewalttaten gewesen, deren Aufklärung niemandem mehr geholfen hatte«.

GRÜBELEIEN Von solchen deprimierenden Grübeleien möchte er wegkommen. Doch bevor diese Frage entschieden wird, sind zwei Vorfälle zu klären, die nichts miteinander zu tun haben, aber beide nach Paris führen. Vor dem Wolfson-Krankenhaus wird ein ausgesetztes Frühchen gefunden, das offenbar einen Abtreibungsversuch überstanden hat und um sein bisschen Leben kämpft, während sich seine Großmutter als von langer Hand planende rachsüchtige Fanatikerin entpuppt.

Und aus einem Strandhotel verschwindet ein Tourist, der bald darauf, schwer geschunden, tot aus dem Meer geborgen wird. Wer als Jacques Bartoldi eincheckte, aber als Raphael Chouchani nach Israel kam und durch die arabische Welt reiste, bringt auch den Geheimdienst auf den Plan.

GENRE Dror Mishani arbeitet mit den Mitteln des Kriminalromans, doch es geht ihm nicht um das Spiel »Wer war’s« oder um wohliges Erschauern seiner Leserschaft. Erkenntnis und das Grauen vor der Alltäglichkeit des Bösen, das hinter Kulissen der Verlogenheit, Gewaltbereitschaft, Sturheit, Einsamkeit und Gleichgültigkeit lauert, heben seine Bücher in die Kategorie hochwertiger Literatur. Dabei kennt er das Krimi-Genre in- und auswendig. Er befasst sich seit Langem mit den Werken von Conan Doyle, Agatha Christie und Leonardo Sciascia, ist Lektor und Literaturwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Geschichte der Kriminalliteratur.

Vor Jahren wurde der israelische Ermittler Avi Avraham gefragt: »Warum gibt es hierzulande keine Kriminalromane?« Seine Antwort damals war richtig und abgrundtief falsch zugleich: »Weil solche Verbrechen hier nicht vorkommen. Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter (…). Wenn bei uns ein Verbrechen begangen wird, dann war es in der Regel der Nachbar oder der Onkel oder der Großvater, und es braucht keine komplizierte Ermittlung, um den Täter zu finden und das Geheimnis zu lüften. Einen großen Unbekannten gibt es bei uns einfach nicht. Die Erklärung ist die am nächsten liegende.«

Weil diese These manchmal zutrifft, aber nicht immer, bleibt für den Ermittler weiterhin viel zu tun: »Leben retten und Grausamkeit, Gewalt und das Böse bekämpfen«, wie es in dem jüngsten Roman Vertrauen heißt.

Dror Mishani: »Vertrauen«. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Diogenes, Zürich 2022, 350 S., 22 €

Israel

Warum ich meine gelbe Schleife nicht ablege

Noch immer konnten nicht alle Angehörigen von Geiseln Abschied von ihren Liebsten nehmen

von Sophie Albers Ben Chamo  17.10.2025

Berlin

Neue Nationalgalerie zeigt, wie Raubkunst erkannt wird

Von Salvador Dalí bis René Magritte: Die Neue Nationalgalerie zeigt 26 Werke von berühmten Surrealisten. Doch die Ausstellung hat einen weiteren Schwerpunkt

von Daniel Zander  17.10.2025

Theater

K. wie Kafka wie Kosky

Der Opernregisseur feiert den Schriftsteller auf Jiddisch – mit Musik und Gesang im Berliner Ensemble

von Christoph Schulte, Eva Lezzi  17.10.2025

Frankfurter Buchmesse

Schriftsteller auf dem Weg zum Frieden

Israelische Autoren lesen an einem Stand, der ziemlich versteckt wirkt – Eindrücke aus Halle 6.0

von Eugen El  17.10.2025

Kino

So beklemmend wie genial

Mit dem Film »Das Verschwinden des Josef Mengele« hat Kirill Serebrennikow ein Meisterwerk gedreht, das kaum zu ertragen ist

von Maria Ossowski  17.10.2025

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Esther Abrami

Die Klassik-Influencerin

Das jüngste Album der Französin ist eine Hommage an 14 Komponistinnen – von Hildegard von Bingen bis Miley Cyrus

von Christine Schmitt  16.10.2025

Berlin

Jüdisches Museum zeichnet Amy Gutmann und Daniel Zajfman aus

Die Institution ehrt die frühere US-Botschafterin und den Physiker für Verdienste um Verständigung und Toleranz

 16.10.2025

Nachruf

Vom Hilfsarbeiter zum Bestseller-Autor

Der Tscheche Ivan Klima machte spät Karriere – und half während der sowjetischen Besatzung anderen oppositionellen Schriftstellern

von Kilian Kirchgeßner  16.10.2025