Literatur

»Durch Kafka weniger allein«

Etgar Keret Foto: Stephan Pramme

Literatur

»Durch Kafka weniger allein«

Etgar Keret über Franz Kafkas Einzigartigkeit, Gemeinsamkeiten und seine Fans auf TikTok

von Sophie Albers Ben Chamo  30.05.2024 09:08 Uhr

Herr Keret, was halten Sie von dem Wort »kafkaesk«?
Kafkaeske Situationen gab es schon immer, lange bevor Kafka geboren wurde. Und dann liefert die Literatur plötzlich einen Namen dafür. Wie wenn man einen Schmetterling fängt, der die ganze Zeit um einen herumflattert. Plötzlich spießt man ihn auf, hängt ihn an die Wand und gibt ihm einen Namen. So ist es auch mit Kafkas emotionaler Welt. Die war immer da, aber für lange Zeit unterdrückt. Die Menschen wollten nicht, dass all die Ängste und Verzweiflung offen existieren. Wir haben sie auf dem Dachboden versteckt. Kafka hat nichts erfunden, er war nur mutig genug, sie herunterzuholen und ihnen einen Namen zu geben.

Wie hat Kafka Sie gefunden?
In der Armeezeit. Ich war ein besonders schlechter Soldat, deshalb musste ich am Wochenende häufig in der Kaserne bleiben. Da habe ich nach Büchern gesucht und Kafkas »Metamorphosen« gefunden. Es hat mich aufgemuntert, was untypisch für Kafka ist. Mir wurde in dem Moment klar, dass ich nicht der ängstlichste, unglücklichste Mensch auf Erden bin. Es gab mindestens einen, dem es noch schlechter ging.

Sie waren nicht allein.
Ja, es hatte etwas Tröstendes. Auch als ich dann angefangen habe zu schreiben, war Kafka wichtig. Israels literarische Tradition, das waren Autoren wie Amos Oz oder A. B. Yeho­shua. Die wussten immer mehr als ihre Leser. Es ging um die Gesellschaft, um eine moralische Richtung. Mein Hirn war immer voll mit Geschichten, aber ich hatte keine Antworten. Ich dachte, ich dürfte nicht schrei­ben. Aber dann dachte ich, wenn Kafka schreiben darf, darf ich das auch.

Die Generation Z liebt Kafka, TikTok ist voll mit ihm. Haben Sie eine Idee, warum?
Literatur repräsentiert Gemeinschaften und deren Art zu leben. In »Krieg und Frieden« lernen Sie etwas über die Gesellschaft, bei Tschechow etwas über Familien. Bei Kafka denke ich immer an ein nasses, nacktes Baby, aber ohne Gebärmutter, ohne Eltern, in eine Welt geworfen, die kein Geländer bietet, an dem man sich festhalten könnte. Dieses Schicksal korrespondiert mit der Gefühlswelt von Menschen, die in Gesellschaften im Niedergang leben, wo die Gemeinschaften nicht mehr als Struktur funktionieren. Wenn du jung bist, weißt du, was dir auf Spotify gefällt, aber wenn es um Liebe oder Freundschaft geht oder darum, das Haus zu verlassen, bekommst du Zweifel und Ängste. Dann liest du Kafka und fühlst dich weniger allein. Diese kafkaeske Idee, dass du gerade aus einem Ei geschlüpft bist und alles aus dir selbst aufbauen musst, hilft sehr beim Denken, das nichts als gegeben ansieht.

Welche Bücher würde er heute schreiben?
Vielleicht wäre er 3D-Grafiker. Ich stelle ihn mir als Geek vor, der den ganzen Tag am Computer sitzt und schöne Welten schafft, die er aber niemandem zeigt. Außer vielleicht einem Freund.

Mit dem israelischen Schriftsteller sprach Sophie Albers Ben Chamo.

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