Medizingeschichte

Drostens Vorgänger

Zwischen Antisemitismus und Anerkennung – ein Blick zurück auf die unvergleichlich großen Leistungen jüdischer Immunologen, Virologen und Bakteriologen

von Robert Jütte  09.01.2022 13:17 Uhr

Der Immunologe und Medizin-Nobelpreisträger Paul Ehrlich (1854–1915) in seinem Frankfurter Labor Foto: ullstein bild - Waldemar Titzenthaler

Zwischen Antisemitismus und Anerkennung – ein Blick zurück auf die unvergleichlich großen Leistungen jüdischer Immunologen, Virologen und Bakteriologen

von Robert Jütte  09.01.2022 13:17 Uhr

Im Februar 2021 wurde in einer Kölner Straßenbahn ein Zettel gefunden, auf dem ein anonymer Verfasser bekannte Persönlichkeiten mit antisemitischer Schmähkritik überzog: Unter anderem wurden die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn als angebliche »Juden« diffamiert. Und über den Berliner Virologen Christian Drosten hieß es dort: »Regierungsgefälliger Virologe (…). Dem Phänotyp nach jedenfalls ein Jude.«

Dieser Vorfall fand seinerzeit in den Medien starke Beachtung, belegt er doch, wie weit altbekannte antisemitische Klischees heute noch (oder wieder) verbreitet sind. Zu diesen Stereotypen gehört auch die irrige Vorstellung, dass führende Mediziner und Forscher irgendwie jüdisch sein müssen. Wie lasse es sich denn sonst erklären, so das fatale Denken von Menschen wie dem Verfasser des Zettels in der Straßenbahn, dass in den vergangenen 100 Jahren so viele Medizin-Nobelpreise an Forscher jüdischer Herkunft gegangen sind?

Auf Christian Drosten trifft dieses Klischee bekanntlich nicht zu. Das weiß wohl auch der anonyme Verschwörungstheoretiker. So verwendet er im Falle des Berliner Virologen den Begriff des »Phänotyps«, der in der Geschichte des Antisemitismus immer dann zur Anwendung kommt, wenn man der geschmähten Person keine jüdische Abstammung nachweisen kann, sie aber nach Charakter und Gesinnung für einen Juden hält.

CHARITÉ Wahrscheinlich war dem anonymen Antisemiten und »Querdenker« in Köln bei seiner gegen Christian Drosten gerichteten Schmähung nicht bewusst, dass einer der Vorgänger Drostens am Ins­titut für Virologie der Charité tatsächlich Jude war und als Jugendlicher die Schoa in Berlin nur durch viel Glück überlebt hatte. Professor Hans-Alfred Rosenthal (1924–2009) war bis zu seiner Emeritierung 1989 der dritte Direktor in der Geschichte des Instituts für Virologie der Charité.

Er wurde als Sohn jüdischer Eltern 1924 in Berlin geboren und musste während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit bei dem Elektrogerätehersteller Ehrich & Graetz leisten. Nach dem Ende der Nazizeit studierte er Biologie und wurde 1965 mit einem virologischen Thema an der Berliner Humboldt-Universität promoviert und zehn Jahre später auch habilitiert. Er interessierte sich vor allem für bestimmte Viren (Bakteriophagen), die Bakterien abtöten und deren großes Potenzial für die Immunologie inzwischen erkannt wird.

Für seine Entdeckung des Blutgruppensystems erhielt Karl Landsteiner den Medizin-Nobelpreis.


Die Immunologie befasst sich mit den biologischen und biochemischen Grundlagen der körperlichen Abwehr von Krankheitserregern (Bakterien, Viren, Pilzen) sowie anderen körperfremden Stoffen.

Ein Meilenstein war die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Tollwut im Jahr 1885 durch den französischen Hygieniker Louis Pasteur, dem großen Konkurrenten des deutschen Bakteriologen Robert Koch.

Aber auch diesseits des Rheins wurden bald bahnbrechende Entdeckungen auf dem Gebiet der Immunologie gemacht. Dazu gehörte die Behandlung der Diphtherie durch ein Anti-Serum, das Emil Adolf von Behring und Paul Ehrlich gemeinsam entwickelt hatten.

Letzterer, der im Unterschied zu vielen jüdischen Medizinern, die damals auf eine Karriere bedacht waren, die Taufe ablehnte, hatte zuvor Robert Koch geholfen, einen ersten Impfstoff gegen die Tuberkulose zu entwickeln (»Tuberkulin«), der sich aber in der Praxis als Fehlschlag erwies.

INFEKTIONSABWEHR 1891 holte Robert Koch seinen Freund und Mitarbeiter an das von ihm gegründete Institut für Infektionskrankrankheiten, aus dem später das Robert Koch-Institut (RKI) hervorging. Dort befasste sich Ehrlich mit der Gewinnung von Diphtherieserum. 1896 wurde er Direktor des neu gegründeten Instituts für Serumforschung und Serumprüfung. Ehrlich vertrat die Ansicht, dass die Grundlagen der Infektionsabwehr in Substanzen im Blutserum zu suchen sind. Diese Theorie war um 1900 und in den folgenden Jahrzehnten die vorherrschende Auffassung in diesem rasch expandierenden Forschungsfeld.

1908 erhielt Paul Ehrlich für »Arbeiten über Immunität« gemeinsam mit dem russischen Bakteriologen Ilja Metschnikow, der ebenfalls jüdischer Herkunft war, den Nobelpreis für Medizin.

Am Robert Koch-Institut wurden nach 1933 viele jüdische Wissenschaftler entlassen.

Dass sich vor allem jüdische Mediziner und Biologen für diesen Forschungsansatz interessierten, hängt mit der zeitgenössischen Debatte um den Stellenwert des Bluts in der Bestimmung der Rassen zusammen, an der sich damals auch viele jüdische Wissenschaftler beteiligten.

Was später zur nationalsozialistischen Rassenbiologie mutierte, erwies sich jedoch auch als Katalysator labormedizinischer Blutuntersuchungen, die schließlich zu bahnbrechenden Ergebnissen führten. So entdeckte 1901 der aus einem jüdischen Elternhaus in Wien stammende Karl Landsteiner das Blutgruppensystem (A, B, 0) und leistete damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis unseres Immunsystems.

NOBELPREIS Für seine Entdeckung, durch die eine erfolgreiche Bluttransfusion erst möglich wurde, erhielt Landsteiner 1930 den Nobelpreis für Medizin. Auch forschte er zur Übertragung der Kinderlähmung. Zusammen mit dem Wiener jüdischen Kinderarzt Erwin Popper entdeckte er 1908 das Poliovirus. Damit war der endgültige Nachweis erbracht, dass die gefürchtete Kinderlähmung eine infektiöse Krankheit ist. Landsteiner legte damit die wissenschaftliche Grundlage für die Entwicklung des Impfstoffes gegen die Kinderlähmung, die den US-amerikanischen Forschern Jonas Edward Salk und Albert Sabin (beide übrigens Söhne russisch-jüdischer Eltern) 30 Jahre später gelang.

Karl Landsteiner hatte schon früh die Erfahrung gemacht, dass er trotz seiner bereits gegen Ende des Medizinstudiums erfolgten Konversion zum Katholizismus weiterhin als Jude gesehen und in seiner Karriere behindert wurde. So war Landsteiner, als er 1930 den Nobelpreis erhielt, längst US-amerikanischer Staatsbürger. Der Mitentdecker des Poliovirus, Erwin Popper, sah dagegen die drohende Gefahr nicht kommen und wartete ab. Nach dem »Anschluss« Österreichs gelang ihm die Flucht nach England, wo er als Kinderarzt arbeitete.

Wie die Immunologie in Deutschland nach der Machtübernahme der Nazis ihre führenden Köpfe auf diesem Gebiet verlor, indem sie aus dem Dienst entlassen und früher oder später in die Emigration getrieben wurden, zeigt die Geschichte des RKI. Dort verloren zahlreiche Forscher jüdischer Herkunft infolge des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufs­beamtentums« ihre Stelle.

Die innovativen Ansätze am damaligen RKI gerieten nach 1945 in Deutschland weitgehend in Vergessenheit.

Die »offiziellen« Jubiläumsschriften des Instituts aus den Jahren 1966 und 1991 nennen nur vier entlassene Mitarbeiter: Fred Neufeld, Fritz Kauffmann, Walter M. Levinthal und Werner Silberstein. Damit wird, wie Michael Hubenstorf gezeigt hat, »die NS-Periode zu einem ›kleineren‹ Einschnitt in der Institutsgeschichte mit nur insignifikanten Änderungen gemacht«.

Doch in Wahrheit wurden nach 1933 zwei Drittel des wissenschaftlichen Personals (18 von 28 Mitarbeitern) am RKI entlassen. Darunter befanden sich mindestens zwölf, die nach den »Nürnberger Rassengesetzen« von 1935 »jüdischer Herkunft« waren. Dieser erzwungene Exodus hatte zur Folge, dass ganze Forschungsrichtungen sowie eine Vielzahl von Projekten eingestellt wurden. Von einem bedauerlichen, aber eher geringfügigen personellen Aderlass, wie die beiden Jubiläumsschriften suggerieren, kann keine Rede sein.

Seit den 1920er-Jahren hatte das RKI in der Tat einer hoch qualifizierten Schar jüdischer Bakteriologinnen und Bakteriologen exzellente Arbeits- und Forschungsmöglichkeiten geboten. Sie alle waren mit innovativen Projekten auf dem Gebiet der klinischen Bakteriologie und Serologie sowie der Allergieforschung befasst. Auch die von ihnen begonnenen Arbeiten zur Immuno-Chemie und die Zellkulturforschung wurden nach 1933 größtenteils nicht fortgeführt.

BRAINDRAIN Die innovativen Ansätze am damaligen RKI gerieten nach 1945 in Deutschland weitgehend in Vergessenheit. Im Rückblick stellte die erzwungene Emigration für die betroffenen Immunologen einen deutlichen Karriere­bruch und einen persönlichen Verlust dar.

»Die wenigen (auch nicht immer bekannten) ›Erfolgsgeschichten‹ (F. Kauffmanns weltweit angewandte TPE-Typologie und deren internationale Vernetzung, W. Silbersteins federführende Prägung der Bakteriologie in Israel, A. Cohns klinische Anwendungsforschung des Penicillins, W. A. Colliers Karriere in der holländischen tropenmedizinischen Bakteriologie)«, so der bereits zitierte Wiener Medizinhistoriker Hubens­torf, »sollten nicht davon ablenken, welche Karrieren quasi ›im Sande verliefen‹ oder mit einem grundlegenden Wechsel des Forschungsthemas erkauft werden mussten.«

Aber es darf auch nicht übersehen werden, dass gerade die Länder, die diese aus Deutschland vertriebenen Immunologen aufnahmen, langfristig von diesem Braindrain profitierten. Das beste Beispiel sind die USA, wo es inzwischen eine zweite, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geborene Generation jüdischer Immunologen zu Weltruhm gebracht hat, wie etwa Harvey James Alter, der 2020 zusammen mit zwei weiteren Forschern den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie für die Entdeckung des Hepatitis-C-Virus erhielt.


Der Autor ist Medizinhistoriker. Bis 2020 leitete er das Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart.

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