Erbe

»Dritte Generation« kommt zu Wort

»Das kann nur der Anfang sein«, sagte Sabena Donath, Leiterin der Bildungsabteilung des Zentralrats, nach dem Ende der Tagung »A never ending story – Erinnerung und Trauma in der 3. Generation« in Berlin. Im Zentrum des dreitägigen Seminars in der vergangenen Woche stand die Frage: Was bedeutet die Verfolgung der jüdischen Großeltern während der NS-Zeit für das Leben der Enkel? Welche Belastungen, aber auch welche Chancen bietet eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Überlebenden für die Nachkommen?

Zu der ausgebuchten Veranstaltung der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden mit Diskussionen, Lesungen und analytischen Workshops kamen aber nicht nur Angehörige der »dritten Generation«, sondern der »ersten« und »zweiten« Generation – Überlebende der Schoa und ihre Kinder. Insgesamt trafen sich mehr als 100 Menschen von Mitte 20 bis über 90 aus vielen Städten der Bundesrepublik.

Erbin Bei der Eröffnung der Tagung berichtete Sabena Donath, sie sei schon als Kind Teil der Erinnerungen ihres Großvaters geworden. Er habe ihr seine Geschichten erzählt, als sie noch sehr jung war: »Darüber bin ich froh. Aber ich bin auch Teil seines Traumas geworden, und ich bin auch Erbin dieses Traumas geworden.«

Die Juristin und Autorin Channah Trzebiner, die mit ihrem Roman Die Enkelin indirekt den Anstoß zu der Tagung gegeben hatte, sagte bei ihrer Lesung am vergangenen Donnerstag: »Wir arbeiten hier alle an etwas Großem und Unumgänglichem.« Viele Angehörige der dritten Generation hätten Schwierigkeiten damit, »das eigene Leben so zu leben, wie man es möchte« – wegen des großen Bedürfnisses, es den Eltern und Großeltern recht zu machen. Es gelte, den »Nicht-Raum für eigene Gefühle« wegen des großen Leids, das der eigenen Familie zugefügt worden sei, zu benennen, um die eigene Zukunft positiv und nicht destruktiv zu gestalten, betonte Trzebiner, deren Großvater das KZ Auschwitz überlebt hat.

Auch die Kunstwissenschaftlerin Sarah Ajnwojner ringt bis heute mit den Folgen der Verfolgung ihrer Großeltern: Trotz ihrer unbeschwerten Kindheit kreise ihr Denken immer wieder um die Frage, ob ihre nichtjüdischen Freunde sie verstecken würden, sollte es in Zukunft nötig werden, sagte sie zum Abschluss der Tagung.

Reflexion In nicht presseöffentlichen, jeweils anderthalbstündigen »analytischen Reflexionsräumen« mit den Psychologen und Psychoanalytikern Kurt Grünberg, Marina Chernivsky, Ilan Diner, Elli Kaminer-Zamberk und Yigal Blumenberg erhielten die Teilnehmer die Möglichkeit, sich in einem geschützten Rahmen über ihre Familiengeschichten und Erfahrungen auszutauschen.

»Wir hatten die Kraft und den Mut, uns zu öffnen«, so Sarah Ajnwojner. Dass sie sich anschließend vor versammeltem Publikum zur »Angst vor der fehlenden Loyalität der Freunde« bekannte, trug ihr allerdings eine kritische Nachfrage ein: Stelle sie sich denn auch selbst die Frage, ob sie einen Freund in Not retten würde, wollte eine ältere Teilnehmerin von der jungen Frau wissen.

Ein jüngerer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion bilanzierte, für ihn seien die unterschiedlichen Erfahrungen von »Ost-« und »Westjuden« und Angehörigen der drei Generationen in den Kleingruppen sehr aufschlussreich gewesen. Manche Teilnehmer hätten Details aus ihrer Familiengeschichte preisgegeben und sich emotional stark eingelassen; andere hätten sich einen akademischen Blick bewahrt.

Der Psychoanalytiker Kurt Grünberg vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt, der einen Vortrag über »Transgenerationale Trauma-Tradierung – Szenisches Erinnern der Schoa« hielt, sagte, die Teilnehmer hätten ein großes Bedürfnis gehabt, sich im kleineren Kreis auszutauschen: »Ich finde es gut, dass die Tagung so konzipiert wurde.« Er regte aber an, bei einer weiteren Tagung nicht generationsübergreifend zu arbeiten, sondern die erste, zweite und dritte Generation in getrennten Gruppen zusammenzubringen. Für die Enkel sei es manchmal schwierig, in Anwesenheit von Überlebenden Hemmungen zu überwinden.

Definition Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung, betonte, bei der »dritten Generation« handele es sich nicht um einen geschützten Begriff: »Es gibt zehnjährige Kinder, die sich dazu zählen dürfen, und es gibt 50-Jährige. Der Begriff ist relativ breit.« Wissenschaftlich sei das Thema des Traumas der dritten Generation »noch nicht wirklich durchdrungen«. Nicht nur Kinder von unmittelbar Überlebenden, sondern auch Kinder von »child survivors« (Menschen, die als Minderjährige aus Nazi-Deutschland fliehen konnten), dürften zur zweiten und die Enkel zur dritten Generation gerechnet werden.

Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik plädierte in seinem Vortrag »Weitergeben – weiterleben: zur Vermittlung des Traumas in der Familie« tendenziell für eine enge Definition des Begriffs »Überlebender«: »Lässt sich von jemandem, der oder die nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft Deutschland im Jahre 1933 in Richtung Palästina verließ, tatsächlich sagen, dass er oder sie ein Holocaust-Überlebender ist?«, fragte er.

Ob es möglich ist, anhand quantitativer Erhebungen Schlüsse über das Befinden der »dritten Generation« zu ziehen, wurde nach einem Vortrag des Psychiaters Enrico Ullmann vom Universitätsklinikum Dresden heftig diskutiert. Ullmann, dem ein Hang zur Depression unter jüdischen Migranten aufgefallen war, hatte die psychische Situation von Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion aus der dritten Generation mithilfe von Fragebögen untersucht.

Beziehungsarbeit Kurt Grünberg sagte dazu, er halte quantitative Erhebungen prinzipiell für nützlich. Doch die Frage, welchen Niederschlag die Verfolgungserfahrung der Großeltern im Leben der dritten Generation heute habe, könne nicht durch standardisierte Erhebungsverfahren beantwortet werden, »sondern da braucht man den direkten Kontakt und eine menschliche Beziehung«. Natürlich seien Untersuchungen am Einzelfall subjektiv, erklärte der Analytiker: »Wir nutzen unsere Gegenübertragungsreaktion, um etwas zu erfassen von der Vermittlung des extremen Traumas.«

Die Berliner Kinderärztin und Familientherapeutin Marguerite Marcus sagte am Rande der Tagung, es sei ihrer Meinung nach wichtig, nicht nur über Traumata, sondern auch über Ressourcen zu sprechen. Viele Schoa-Opfer hätten eine positive Lebenseinstellung bewahrt und ihre Kompetenzen, die ihnen beim Überleben geholfen hätten, an Kinder und Enkel weitergegeben, so Marcus. Ihr gehe es darum, »dass wir nicht nur die Schoa im Kopf vermitteln. Wir leben nicht nur in Deutschland, um den Nichtjuden zu beweisen, dass wir noch leben. Sondern wir leben auch in Deutschland, um für uns hier jüdisches Leben zu reaktivieren – und uns daran zu erfreuen.«

»A never ending story«– das Treffen in Berlin wird nicht die letzte Tagung der Bildungsabteilung zur »dritten Generation« gewesen sein. Beim nächsten Mal, so Donath, soll besonders auf die Enkelgeneration der Zuwanderer eingegangen werden.

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