ansichtssache

Drei Leinwände für eine Kontroverse

Hamburg, Montag, 18. Januar 2009, 18.45 Uhr. Hunderte von Besuchern reihen sich vor dem Hochbunker auf dem Heiligengeistfeld. Hier im Klub Uebel & Gefährlich läuft heute um 19 Uhr Warum Israel von Claude Lanzmann. Eine offensive Reaktion auf die gewaltsame Verhinderung einer Vorführung in einem kleinen Kino durch Linksextreme im vergangenen Spätherbst. Deswegen wird Lanzmann nach dem Film anwesend sein. Es soll aber nicht mit dem Publikum diskutiert werden: Man möchte Wirrköpfen keine Plattform bieten. In Zehnergruppen werden die Zuschauer eingelassen. Taschenkontrolle, abtasten lassen, per Hand und mit dem Metalldetektor.

19.00 Uhr. In der vierten Etage, in einem fensterlosen Saal, in dem sonst Bands spielen, verteilen sich viele junge Leute auf Klappstühle und Bänke; vorwiegend dunkel gekleidet, in Kapuzen-Sweatshirts, drapiert mit Mützen und Käppis.

19.45 Uhr. Es geht los. Mit einer Dreiviertelstunde Verspätung. Auf drei Leinwände – an der Stirnseite, der linken und der rechten Wand – wird der Film projiziert. Das wirkt wie eine Videoinstallation in einem Kunstraum. Schwenkt die Kamera mit großer Geste über Berge, Ansiedlungen, Straßen oder Menschenmengen, ist es, als drehe sich der ganze Saal.

21.15 Uhr. Pause. Hinter der lang gestreckten Theke werden hektisch Flaschen geöffnet. Das Publikum diskutiert. Was hält Israel zusammen? Kann man Jude sein, ohne sich religiös zu fühlen? Manchen Zuschauern sind die merkwürdigen Brillen und Frisuren in diesem Film von 1973 aufgefallen. Andere finden seltsam, dass Frauen kaum zu Wort kommen, und, wenn sie doch etwas sagen, man ihnen schnell wieder das Wort abschneidet.

22.45 Uhr. Der Film läuft aus. Diverse Szenen sind haften geblieben: Der Polizist, der fast freundlich erzählt, wie er in Auschwitz an der Rampe nach rechts gewunken wird, während sein Vater, seine Mutter und drei Cousins nach links gehen müssen. »Ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen«, spricht er in die Kamera, als könne sich das vielleicht noch ändern. Eine junge Verkehrspolizistin, von Lanzmann befragt, ob es ihr etwas ausmache, Juden zu verhaften. Und sie: »Hä? Ich verstehe Ihre Frage nicht.« Arbeiter, für die es okay ist, dass es in Israel arme und reiche Menschen gibt. Soldaten, die in Hebron mit schussbereitem Gewehr Araber kontrollieren: Nein, die Arbeit gefalle ihnen nicht. Es sei eine dreckige Arbeit und sie seien froh, wenn sie wieder woanders eingesetzt würden.

23.00 Uhr. Auf der Bühne steht jetzt ein Sofa. Unter großem Applaus setzt sich Claude Lanzmann. »Ich mag diesen Film noch immer sehr gerne«, sagt er. Erzählt, wie ahnungslos er anfangs gewesen sei: »Die Gründung des Staates Israel 1948, das habe ich damals gar nicht mitbekommen.« Berichtet, wie er 1952 zum ersten Mal in Israel war, um eine Artikelserie über das Land zu schreiben. Was nicht ging – mit ein paar Zeitungszeilen den jungen Staat mit all seinen Widersprüchen und Problemen zu illustrieren. Deshalb der Film. Manchmal erzählt Lanzmann Passagen des eben Gesehenen ausführlich nach. Der Moderator traut sich nicht, ihn zu unterbrechen. Die ersten Besucher erheben sich leise.

23.50 Uhr Klaus Theweleit übernimmt das Mikrofon. Er soll mit Lanzmann diskutieren. Dessen Idee über das Stillstehen der Zeit, während sie doch stetig voranschreitet, fasziniere ihn. Doch der Kulturkritiker wechselt erst mal in einen Vortrag über die verschiedenen Montagetechniken, die es beim Dokumentarfilm so gibt. Das kann jetzt dauern! Fährt nicht ohnehin die letzte S-Bahn?

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Rache

»Trigger-Thema« für Juden

Ein Filmseminar der Jüdischen Akademie untersuchte das Thema Vergeltung als kulturelle Inszenierung

von Raquel Erdtmann  01.12.2025

Wuppertal

Schmidt-Rottluff-Gemälde bleibt in Von der Heydt-Museum

»Zwei Frauen (Frauen im Grünen)« von Karl Schmidt-Rottluff kann im Von der Heydt Museum in Wuppertal bleiben. Nach Rückgabe an die Erbin erwarb die Stadt das Bild von ihr. Vorausgegangen waren intensive Recherchen zur Herkunft

 01.12.2025

Dorset

»Shakespeare In Love« - Dramatiker Tom Stoppard gestorben

Der jüdische Oscar-Preisträger war ein Meister der intellektuellen Komödie. Er wurde 88 Jahre alt

von Patricia Bartos  01.12.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 30.11.2025 Aktualisiert

Gerechtigkeit

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz 

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz Jahrzehnte nach Ende des NS-Regimes hoffen Erben der Opfer immer noch auf Rückgabe von damals geraubten Kunstwerken. Zum 1. Dezember starten Schiedsgerichte. Aber ein angekündigter Schritt fehlt noch

von Verena Schmitt-Roschmann  30.11.2025

Berlin

Späte Gerechtigkeit? Neue Schiedsgerichte zur NS-Raubkunst

Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Zeit kämpfen Erben jüdischer Opfer immer noch um die Rückgabe geraubter Kunstwerke. Ab dem 1. Dezember soll es leichter werden, die Streitfälle zu klären. Funktioniert das?

von Cordula Dieckmann, Dorothea Hülsmeier, Verena Schmitt-Roschmann  29.11.2025

Interview

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  29.11.2025