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Doppelte Portion Zucker

Fünf Minuten vor Ende der Serie richtet Nuchem Shtisel folgende Worte an seine Tochter Libbi: »Weißt du, warum ich Menschen liebe? Weil sie etwas Menschliches an sich haben.« Diese Erkenntnis umfasst alles, was Nuchem acht Folgen lang versucht hat, zu vollbringen: Menschen in ihrem Menschsein zu erfassen.

Und dazu gehört er selbst. Der Vater und bald Ex-Ehemann, gespielt von einem ausdrucksstarken Sasson Gabbai, versucht sich, scheitert, fällt, steht auf und fängt wieder von vorn an. Eine ganze Serie lang, immer wieder Kugel essend. Dass er dabei Menschen irritieren und auch verletzten kann, stört ihn selbst. Dennoch nimmt der Schmuckhändler aus Antwerpen in Kauf, dass sich seine Frau von ihm trennt oder die Frau eines verstorbenen Freundes seine Hilfe (vorerst) ablehnt.

Nicht selten bewegt sich Nuchem an der Grenze zum moralisch Fragwürdigen. Das macht ihn zur strauchelnden, manchmal auch leidenden Figur, der es trotzdem jedes Mal gelingt, aus dem Schlamassel herauszukommen, weil er seiner Umwelt, unter anderen seiner Ex-Frau und seiner Tochter, Gutes tun möchte.

Behilflich sind ihm Charisma und Empathie, denn seine Absichten sind keinesfalls schlecht. Immer wieder leistet Nuchem Überzeugungsarbeit, um seinem Ziel, Menschen zu beglücken, näher zu kommen. Daran ist nichts verwerflich. Dass es dennoch nicht immer ganz koscher ist, muss ihm sein Umfeld, einmal sogar das rabbinische Gericht, verzeihen.

Die Serie beginnt mit der Scheidung von Nuchems Ehe mit Yides

Die Serie beginnt mit der Scheidung von Nuchems Ehe mit Yides (Mili Avital), dem entscheidenden Ereignis, das den Ton für die persönlichen Lebenswege der Figuren setzt. Libbis Streben, feinfühlig und mit viel Rückgrat dargestellt von der israelischen Schauspielerin Hadas Yaron, nach literarischem Ausdruck und ihre Suche nach einem passenden Partner sind zentrale Themen und reflektieren die Spannung zwischen individuellem Streben und gesellschaftlichen Normen in der Serie, die weniger Schwere als ihr Vorgänger transportiert.

Feinfühlig und temporeich geht Kugel, das Shtisel-Prequel (und nicht das Gericht aus der aschkenasisch-jüdischen Küche), die großen Lebensfragen an, reflektiert dabei geschmeidig Themen wie Identität, Zwang und persönliche Handlungsfähigkeit.

Mal allein, mal mit seiner Tochter Libbi, einer jungen Frau im heiratsfähigen Alter, deren Wunsch es weniger ist, eine Familie zu gründen, als vielmehr Schriftstellerin zu werden, bewegt sich Nuchem in einer orthodoxen Welt, die nicht minder chaotisch ist als die säkulare. Sich darin zurechtzufinden und sich dabei gleichzeitig die Freiheit zu nehmen, eigene Entscheidungen zu treffen, ist ein Bravourstück, das auch den Machern der neuen Serie gelingt, und zwar besser als in Shtisel.

Nuchems Kugel-Rezept: »Wenn es heißt, du sollst zwei Löffel Zucker nehmen, nimm vier.«

Die Figuren, in Shtisel noch in Nebenrollen verpackt, bewegen sich inmitten einer streng religiösen Gemeinde, mit der sich die Serie differenziert auseinandersetzt, diesmal jedoch europäischer daherkommend als in den drei Staffeln von Shtisel, die im orthodoxen Viertel Jerusalems, Mea Schea­rim, spielten. Vermutlich ist es der Biografie Yehonatan Indurskys, dem israelischen Filmemacher und Schöpfer beider Serien, zu verdanken, dass der Orthodoxie weder mit Befremden noch mit Voyeurismus begegnet wird.

Indursky, selbst zwischen den beiden Lebenswelten oszillierend, gelingt es, ein feines Bild der jüdischen Community in Antwerpen zu zeichnen, ohne sich davor zu scheuen, große Themen anzusprechen: Liebe, Lebensträume, Realität. Die Handlungsmotive der Charaktere sind – zumindest meistens – nachvollziehbar. Vielleicht, weil Nuchem, Libbi und Co. alles aus tiefster Überzeugung tun, vielleicht aber auch nur, weil sie – wie Nuchem immer wieder bekräftigt – »a Mensch sint«.

Gesprochen, gestritten und gelacht wird hauptsächlich auf Hebräisch

Gesprochen, gestritten und gelacht wird hauptsächlich auf Hebräisch – das lässt die Szenen manchmal etwas unrealistisch wirken, da sich die meisten Antwerpener Juden kaum nur auf Hebräisch unterhalten –, manchmal aber auch auf Jiddisch und Flämisch.

Und gegessen wird immer wieder dieser Kugel, der Pnina, der Restaurantbesitzerin, nach dem Tod ihres Mannes einfach nicht mehr so gelingt wie zuvor und die Nuchem charmant umwirbt. Plötzlich, über Nacht, findet er die richtige Mischung, damit der Geschmack wieder an früher erinnert. Das Rezept dafür könnte nicht einfacher sein: »Wenn es heißt, du sollst zwei Löffel Zucker nehmen, dann nimm vier.«

Dieser Zucker macht vermutlich auch die Leichtigkeit der Serie aus, die aber in keinem Moment ins Süße kippt. Auch dann nicht, wenn sich Libbi in den Jeschiwe-Bocher aus der Straßenbahn verliebt. Sie gesteht nicht nur sich selbst, sondern auch ihrem Vater, dass sie Tag und Nacht an Yoilish (Roy Nik) denkt. Es wäre einfach, mit ihm anzubandeln, wenn sich nicht der Schwiegervater querstellen und Nuchem als Betrüger denunzieren würde.

Und selbst dann, als alle Hindernisse aus dem Weg geräumt scheinen, damit Libbi und Yoilish, die viel miteinander telefonieren, heiraten könnten, steht sich Libbi selbst im Weg, weil sie irrtümlicherweise davon ausgeht, dass Familiengründung und Schreiben einander ausschließen müssen. Aus diesem Dilemma hilft ihr letztendlich der Redakteur »einer orthodoxen Zeitung«, die ihre Texte publiziert, welche offenbar ein großes – weibliches – Publikum ansprechen.

Die Serie spielt in Antwerpen und kommt europäischer daher als »Shtisel«.

Offensichtlich führen die Irrungen und Wirrungen auch in orthodoxen Kreisen manchmal ins Absurde, wenn auch leiser und mit anderer Ausstattung als in einem säkularen Setting. Doch retuschiert man einmal den hochgezogenen Pulli und die Pejes vor dem inneren Auge weg, bleiben suchende Existenzen, die nach Erfüllung streben. Das macht die Serie aus, und hinter der vermeintlich simplen Handlung verbergen sich moralische Herausforderungen, die selbstverständlich nicht leicht zu bewältigen sind.

Fragen stellen und über das Offensichtliche nachdenken

Kugel fordert sein Publikum auf, Fragen zu stellen und über das Offensichtliche nachzudenken. Beeindruckend ist nicht nur die schauspielerische Leistung eines 77-jährigen Sasson Gabbai, dessen authentisches Lachen unglaublich berührend ist. Auch Libbi ist eine komplexe und mehrdimensionale Figur, die es schafft, etwas Inneres beim Zuschauer zu treffen. Sie wird als kluge, sensible und eigenwillige Frau dargestellt, die darum kämpft, ihren Platz in einer Welt zu finden, deren Tempo sich schwindelerregend schnell steigert.

Äußerlich strahlt sie Zärtlichkeit und Kraft aus, ihre Augen sind der beste Beweis dafür. Im Lauf der Serie muss sich Libbi mit inneren Konflikten, dem Kampf zwischen der Loyalität zu ihrer Familie und ihrem starken Wunsch, ihre eigenen Träume zu erfüllen, auseinandersetzen. Sie verfügt über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe, die es ihr ermöglicht, die Menschen um sie herum in ihrer Tiefe zu verstehen.

Doch der angehenden Bestseller-Autorin fällt es oft schwer, ihren eigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Folglich durchläuft Libbis Charakter einen Reifeprozess: von der Angst hin zur Selbstakzeptanz und dem Mut, auf eigenen Füßen zu stehen. Damit gelingt es der Serie – für ein internationales Publikum seit ihrer Premiere am 28. Februar auf einer israelischen Streaming-Plattform verfügbar –, emotionale Tiefe, kluge Texte und präzise visuelle Gestaltung zu verbinden. Ob jedoch Pninas Kugel mit der doppelten Portion Zucker auch wirklich schmeckt, darüber kann nur gerätselt werden. Sehr attraktiv sieht er ehrlicherweise nicht aus.

Die Serie wird auf der israelischen Plattform Izzy gestreamt.

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