Meinung

documenta: Mehr Universalismus wagen!

Joshua Schultheis Foto: Charlotte Bolwin

Meinung

documenta: Mehr Universalismus wagen!

Unser Autor meint: Der Partikularismus der Ausstellungsverantwortlichen offenbart seine ganze Widersprüchlichkeit und intellektuelle Unredlichkeit

von Joshua Schultheis  23.06.2022 17:47 Uhr

Immerhin, die documenta-Kommission hat irgendwie zugegeben, dass auf der Kasseler Ausstellung judenfeindliche Kunstwerke ausgestellt werden. Man sei »erschüttert über die Entdeckung von Karikaturen, die nicht anders als antisemitisch gelesen werden können«, heißt in einem Statement der Findungskommission, die dafür verantwortlich ist, dass einer Gruppe mit BDS-Nähe die künstlerische Leitung über eine der weltweit wichtigsten Kunstausstellungen übergeben wurde.

Ein größeres Zugeständnis als ein »Nicht-anders-gelesen-werden-Können« ist auch vermutlich nicht zu erwarten von dem achtköpfigen internationalen Team, das von »einer Welt, die aus vielen Welten besteht, ohne Hierarchie oder Universalismus« fantasiert. Genau dafür steht nämlich ihrer Meinung nach die 15. documenta, die angetreten war, einen Kontrapunkt zur westlichen Perspektive auf die Welt zu setzen. Das ist furchtbar schiefgegangen – nur die documenta-Kommission will dies nicht wahrhaben.

Mit der Idee eines »nicht-hierarchischen Pluriversums« ist man gegen jede unbequeme Wahrheit bestens wappnet

Da trifft es sich gut, dass ihre Idee eines »nicht-hierarchischen Pluriversums« gegen jede unbequeme Wahrheit und jeden Widerspruch bestens wappnet. In einer »Welt, die aus vielen Welten besteht«, kann man nämlich gleichzeitig eingestehen, dass auf der Ausstellung, die man mitverantwortet, Karikaturen im »Stürmer«-Stil zu sehen sind, und die gesamte Veranstaltung dennoch als »großzügig, zum Nachdenken anregend, fröhlich und einladend« beschreiben.

In einer solchen Welt kann man auch den Künstlern, die die enthumanisierenden Bilder gemalt haben, die in einer langen Tradition des Judenhassens stehen, seinen »Respekt« aussprechen, und zugleich »den Schmerz, den sie verursacht haben« verstehen. In ihr kann man zum einen den Kuratoren »zu ihrer außergewöhnlichen Leistung gratulieren«, und zum anderen die Abhängung eines antisemitischen Werkes, das unter deren Ägide aufgestellt wurde, befürworten.

Im Pluriversum lassen sich im selben Satz »Bilder, die auf Nazi-Karikaturen verweisen«, ablehnen, und Grenzen »zwischen Kritik am israelischen Staat und Antisemitismus ziehen«. Hier kann man in einem Statement zu einem Antisemitismus-Skandal von einem »vielstimmigen Prozess der Wahrheitsfindung und Versöhnung« sprechen, damit aber nicht die empörte jüdische Gemeinschaft im Sinn haben, sondern die »Hinterlassenschaften des europäischen Kolonialismus und die fortbestehenden Machtverhältnisse in der Welt«.

Prinzipien Das Anliegen der Findungskommission, den Künstlern des globalen Südens eine Bühne zu geben, ist berechtigt. Dass an ihre Kunst ein Maßstab gelegt wird, der sich von der Idee allgemeingültiger Prinzipien verabschiedet hat, ist es nicht.

Der Geist der diesjährigen documenta, ein sich als progressiv verstehender Partikularismus, offenbart in diesen Tagen seine ganze Widersprüchlichkeit und intellektuelle Unredlichkeit. Die renommierte Kunstausstellung sollte sich vorsehen, nicht vor lauter Viele-Welten-Geraune in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Wie wäre es da beim nächsten Mal mit dem wirklich mutigen Motto: Mehr Universalismus wagen!

schultheis@juedische-allgemeine.de

Ariel Magnus

Fabulieren mit Berliner Biss

Der Argentinier und Enkel von deutschen Juden legt einen urkomischen Roman über das Tempelhofer Feld vor

von Alexander Kluy  16.10.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 17. Oktober bis zum 23. Oktober

 16.10.2025

Marko Dinić

Das große Verschwinden

Der serbisch-österreichische Autor füllt eine Leerstelle in der Schoa-Literatur

von Katrin Diehl  13.10.2025

Usama Al Shahmani

Die Hälfte der Asche

Der Schweizer Autor stammt aus dem Irak. Sein Roman erzählt eine Familiengeschichte zwischen Jerusalem und Bagdad

von Frank Keil  13.10.2025

Literatur

Poetische Analyse eines Pogroms

Boris Sandler, ehemaliger Chefredakteur der jiddischen Zeitung »Forverts«, schreibt über das Blutbad von Kischinew

von Maria Ossowski  13.10.2025

Sachbuch

Zion liegt in Texas

Rachel Cockerell schreibt über russische Juden, die in die USA auswanderten – ein Teil ihrer Familiengeschichte

von Till Schmidt  13.10.2025

Romain Gary

Widerstand in den Wäldern

»Europäische Erziehung«: Der Debütroman des französisch-jüdischen Schriftstellers erscheint in neuer Übersetzung

von Marko Martin  13.10.2025

Jan Gerber

Vergangenheit als Schablone

Der Historiker skizziert die Rezeptionsgeschichte des Holocaust und stößt dabei auf Überraschendes

von Ralf Balke  13.10.2025

Literatur

Die Tochter des Rabbiners

Frank Stern erzählt eine Familiengeschichte zwischen Wien, Ostpreußen, Berlin und Haifa

von Maria Ossowski  13.10.2025