Essay

Die Republik der Zukunft

Europa: Ein einzelnes Fähnchen genügt nicht mehr. Foto: Thinkstock

Mich begeistert die europäische Idee – aber nicht die gegenwärtige Konstruktion der Europäischen Union. Die EU ist ein menschengemachtes Projekt und wie alles Menschengemachte voller Fehler oder innerer Widersprüche.

Das heißt: Kritik ist notwendig, Destruktion aber unsinnig. Leider ist es heute so, dass die Diskussion über die europäische Entwicklung aufgespalten ist in glühende EU-Befürworter, die keine Kritik dulden, und gnadenlose EU-Kritiker, die keine Vorzüge der europäischen Vergemeinschaftung anerkennen, sogar wenn sie selbst davon profitieren. Das ist unproduktiv und verschärft die gegenwärtige Krise, die es zweifellos gibt, noch mehr.

Grundsätzlich ist die Idee des europäischen Projekts vernünftig und geradezu geschichtslogisch. Ich habe nie sehr viel anfangen können mit dem Begriff der nationalen Identität. Ich bin Wiener – und ich weiß nicht, was das sein soll, die Idee einer österreichischen Nation.

Nationalismus
Aber ich weiß, was der Nationalismus angerichtet hat. Er hat meine Großeltern, patriotische Österreicher, zu Ungeziefer erklärt, das vernichtet werden müsse, und er hat aus deren Sohn, einem Wiener Kind, einen Soldaten gemacht, der in englischer Uniform mit der Waffe in der Hand in seine Heimat zurückkehren musste.

Die Nation als Idee hat vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart katastrophale Auswirkungen gehabt, dass der Nationbegriff nie wieder unschuldig sein kann. Man sagt immer wieder, dass die Nation von feudaler Willkür befreit und Demokratie entwickelt hat. Aber wo waren denn Demokratie und Freiheit von Willkür in der deutschen Nationwerdung, im nationalen Wahn von Franco-Spanien oder Mussolini-Italien? Gerade Deutschland sollte sehr vorsichtig damit sein, Nation mit Demokratie und Rechtszustand gleichzusetzen.

Ich verstehe, dass Menschen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen, zu einer Solidargemeinschaft und nach Identität haben. Das sind edle Sehnsüchte. Der Nationalismus aber hat diese betrogen und für die größten Menschheitsverbrechen missbraucht.

Heute hat die Idee einer nationalen Identität objektiv keine Verankerung in der Realität mehr: Es gibt keine »Völker« mehr mit einer Sprache, einer Religion, einer gemeinsamen Kultur, auf einem Territorium innerhalb »natürlicher« Grenzen. Kulturräume halten sich nicht an nationale Grenzen, die noch dazu verschwinden.

multiple Identitäten
Heute definieren sich die Menschen nicht mehr über die großen kollektiven Begriffe wie Sprache oder Religion, sondern haben multiple Identitäten – berufliche, sexuelle, kulturelle und sprachliche in einer immer polyglotteren Welt. Damit haben sie mehr Gemeinsamkeiten mit Menschen in anderen Ländern als mit den eigenen Eliten. Die EU ist als Idee die politische Organisation dieser objektiven Entwicklung. Heimatgefühle wurzeln im Lebensort, in der Region, in der man aufgewachsen ist. Heimat ist ein Menschenrecht. Aber nationale Identität ist eine Fiktion.

Ich bin in Wien aufgewachsen und sozialisiert worden. Aber die Frage, warum ich gemeinsame Interessen haben soll mit Menschen in Vorarlberg oder Tirol, wohin ich acht Stunden mit dem Zug brauche, nur weil die Menschen dort denselben Pass haben wie ich, kann ich nicht verstehen. Meine Freunde in Vorarlberg wären auch meine Freunde, wenn sie nicht denselben Pass hätten.

Umgekehrt brauche ich von Wien nur 40 Minuten bis Bratislava. Warum soll ein Mensch, der 40 Minuten von mir entfernt lebt, ganz andere Interessen haben als ich? Die grundsätzlichen Lebensinteressen, die ein Mensch hat, lassen sich unmöglich durch nationale Identitäten auseinanderdividieren.

Realität Das ist der Grund, weshalb das europäische Projekt nach den Verbrechen und Katastrophen, die Nationalismus und Rassismus angerichtet haben, befreiend und vernünftig ist. Dies einzusehen, macht auch fit für die Realität: Es gibt ja kein Phänomen mehr, sei es politisch, wirtschaftlich oder kulturell, das innerhalb von nationalen Grenzen souverän gestaltet werden kann oder vor nationalen Grenzen haltmacht.

Alle Phänomene, die heute unser Leben bestimmen, sind transnational. Die Wirtschaft ist längst eine gemeinsame europäische Volkswirtschaft, die Wertschöpfungskette ist transnational, die Finanzströme, die Migrationsbewegungen, die Ökologie, die Kultur, das Internet – auch die Überwachung. Also alles, was entweder Chance oder Bedrohung ist.

Illusion Aber die Menschen, die nun mal weitgehend mit dem Konzept nationaler Identität aufgewachsen sind, haben immer noch die Illusion, dass der Nationalstaat die Garantie für Wohlstand und soziale Sicherheit böte. Die gegenwärtigen Renationalisierungstendenzen in Europa wecken Erwartungen der Bevölkerungen an ihre Regierungen, die diese längst nicht mehr erfüllen können.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Die Wähler insistieren darauf, den nationalen Sonderweg dennoch zu versuchen. Das muss und wird scheitern. Oder sie sehen ein, dass wir die Vergemeinschaftung weiter treiben müssen – dann werden die Menschen auch sehen, dass es nur so funktionieren kann.

Es klingt vielleicht defätistisch oder verrückt, aber ich glaube, wenn die EU auseinanderbricht, wird das passieren, was 1945 passiert ist. Die Menschen werden vor rauchenden Trümmern stehen und einmal mehr und dann endgültig »Nie wieder!« sagen. Ich wünsche mir nicht, dass es so läuft, aber ich bin überzeugt, dass das Europa der Nationalstaaten zerbrechen wird, entweder weil die EU sich weiterentwickelt oder weil sie scheitert.

demokratie In einem Punkt verstehe ich den Unmut, die Wut und die Aggressionen vieler Bürger: Sie merken, dass die Demokratie irgendwie versickert, sie fühlen sich entmachtet und betrogen, die Menschen haben das Gefühl, innerhalb der gegebenen demokratischen Strukturen nichts mehr bewegen zu können. Aber das Missverständnis ist, zu glauben, man müsse die nationale Demokratie restaurieren und verteidigen, statt die europäische Demokratie weiterzuentwickeln.

Der Anspruch eines demokratischen Systems ist es, gestaltend in Entwicklungen, die stattfinden, eingreifen zu können. Aber genau das können Nationalstaaten ja nicht mehr. Nicht einmal eine so große und mächtige Nation wie Deutschland. Wenn etwa Deutschland alleine eine Finanztransaktionssteuer beschließt, bricht vielleicht der Finanzmarkt in Frankfurt zusammen, aber nicht das transnational mäandernde Kapital. Wenn aber ganz Europa eine solche Steuer beschließt, dann wird dadurch tatsächlich nachhaltig vernünftig in den irrationalen Wahnsinn der Blasenbildungen und der Finanzcrashs eingegriffen.

Man muss die Kritik an demokratischen Defiziten ernst nehmen, aber immer wieder zeigen, dass es sich um einen Nicht-mehr/Noch-nicht-Zustand handelt, um eine historische Übergangsphase, in der die nationalen Demokratien nicht mehr funktionieren, aber die europäische Demokratie noch nicht, weil wir noch keine wirkliche transnationale Demokratie entwickelt haben.

EU-Parlament Zwei Schritte sind notwendig. Der erste Schritt ist, das Europäische Parlament zu stärken. Es muss sämtliche Rechte bekommen, die entwickelter Parlamentarismus benötigt. Gleichzeitig muss man klarmachen, dass man durch die Wahl von Anti-EU-Listen oder nationalistischen Parteien das Europäische Parlament behindert, während man die nationale Demokratie damit gar nicht retten kann.

Der zweite Schritt, der auch schon jetzt unternommen werden muss, wäre, endlich offensiv eine Diskussion darüber zu führen, wie das historisch vollkommen Neue, nie Dagewesene, nämlich die nachnationale Demokratie, institutionell und verfassungsmäßig aussehen kann.

Eliten Diese Diskussion wird aber von den politischen Eliten nicht nur nicht geführt, sie wird gemieden. Der Grund dafür liegt darin, dass alle Politiker, die heute in der EU europapolitische Verantwortung haben, nur national gewählt werden können. Ihr politisches Überleben hängt von der heimischen Zustimmung ab. Daher müssen sie die Fiktion nationaler Interessen aufrechterhalten.

Wenn die Staats- und Regierungschefs, die im Europäischen Rat sitzen, in ihre Hauptstädte zurückkommen, erklären sie den Wählern, wie sie die Interessen ihres Landes gegen alle anderen verteidigt haben. Dieses »gegen alle anderen« ist genau das nationalistische Gift, gegen das die EU gegründet wurde.

Diese Struktur des Europäischen Rats ist ein Systemfehler der EU. Deshalb ist die Stärkung des Europäischen Parlaments so wichtig. Und deswegen ist auch diese Wahl ein weiterer kleiner Schritt in die richtige Richtung, weil damit zum ersten Mal die Möglichkeit besteht, den Kommissionspräsidenten durch einen Mehrheitsbeschluss des Parlaments demokratisch zu legitimieren. Er wäre dann nicht mehr nur eine Marionette, die in einem Hinterzimmer des Rates der Staats- und Regierungschefs gebastelt wurde.

Habsburger Eine Renationalisierung wäre außerdem eine Gefahr für Juden, weil Juden in der Regel sogar in aufgeklärten Gesellschaften wie der deutschen nicht als Teil des nationalen Volkskörpers gesehen werden, sondern als eine eigene Ethnie und wesensfremde Religion, die zu tolerieren man gelernt hat, aber die nicht als Bestandteil der eigenen Identität gesehen wird.

Staaten mit ausgeprägter nationaler Identität sind für Juden eher eine Gefahr. Transnationale Entwicklungen hingegen bieten Juden mehr Sicherheit. Das hat sich schon im Habsburgerreich gezeigt. Dieses hatte keine Nationsidee, sondern war ein multiethnisches, vielsprachiges Gebilde mit gemeinsamem Markt und gemeinsamer Währung. Der Nationalismus hat das in die Luft gesprengt. Jeder wollte sich auf einmal Serbe oder Tscheche oder Deutscher oder was auch immer nennen, nur die Juden waren die letzten Patrioten des transnationalen Habsburgerreiches. Nach dessen Zusammenbruch sind die Juden dann vom Nationalismus am meisten bestraft worden.

Natürlich kann man das Habsburgerreich nicht als Vorbild für die EU nehmen. Es war eine Monarchie, und die Zukunft der Europäischen Union wird die Europäische Republik sein. Gleichwohl gibt es starke Analogien. Zum Beispiel die Verwaltung mit einer hochethischen, supranationalen Beamtenschaft, die weitgehende Subsidiarität der Regionen.

Antisemitismus Das weist in die Zukunft: Das Europäische Parlament gibt die Rahmenbedingungen für alle vor, innerhalb derer sich regionale Subsidiarität entwickelt. Es gab auch im Habsburgerreich einen ziemlich virulenten Antisemitismus, aber es ist zugleich ein historisches Faktum, dass die verfassungsmäßigen Rechte bis zum Schluss gehalten haben.

Der Antisemitismus war rhetorisch, erst mit dem Nationalismus wurde er praktisch. Reste von rhetorischem Antisemitismus wird man auch heute nicht ganz loswerden, aber die Überwindung des Nationalismus ist auf jeden Fall ein historischer Fortschritt im Sinne der Gewährleistung der Menschenrechte.

Kürzlich hatte ich bei einem Europa-Kongress eine Diskussion mit einem deutschen Verfassungsrechtler, der tatsächlich der Ansicht war, nationale Verfassungen stünden im Zweifelsfall höher als die Menschenrechte. Denn die Menschenrechte seien abstrakt, nationale Interessen aber konkret. Solche Irrationalismen zeigen sich immer sofort, wenn jemand heute noch die Idee der Nation verteidigt.

Deswegen soll man wählen gehen, um das Europäische Parlament zu stärken. Dabei muss sich die Einsicht durchsetzen, dass ich mit der Wahl nationalistischer Parteien nicht einmal die nationale Demokratie retten kann, sondern nur die Entwicklung der europäische Demokratie behindere und dadurch selbst schuld bin an dem Demokratiedefizit, das ich beklage.

Robert Menasse ist Schriftsteller. In seinem Buch »Der europäische Landbote« (2012) setzt er sich mit den EU-Institutionen in Brüssel auseinander.

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