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»Die Passagierin«

Szene aus der Oper von Mieczyslaw Weinberg Foto: Candy Welz

Diese Oper ist ein Jahrhundertwerk: Die Passagierin von Mieczyslaw Weinberg (1919–1996). Reichlich verspätet kam sie erst 2010 in Bregenz das erste Mal auf eine Bühne. Es ist die Geschichte der sonderbaren Wiederbegegnung der KZ-Aufseherin Lisa Franz und der polnischen KZ-Insassin Marta. Ihr Treffen auf einer Schiffsüberfahrt nach Kriegsende lässt Erinnerungen an die Hölle von Auschwitz aufbrechen.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben zusammen mit der kongenialen Raum-Erfinderin Anna Viebrock eine der intelligentesten Nachinszenierungen der in Weinbergs sowjetrussischer Heimat zu seinen Lebzeiten nie aufgeführten Oper abgeliefert. Dabei haben sie sich einer direkten Bebilderung des KZ enthalten. Anna Viebrock hat aber einen »sprechenden« Raum gefunden und als Ort einer Verschränkung der Zeitebenen adaptiert. Es ist der Saal der Frankfurter Auschwitz-Prozesse. Auf der Bühne ist er mit einem drei Meter hohen schwarzen Farbsockel versehen. Damit ist die berüchtigte schwarze Erschießungswand in Auschwitz stets gegenwärtig.

Eine Verfremdung, die das Grauen scheinbar in die Ferne rückt, es in Wahrheit aber näher heranholt.

In der einen Handlungsebene befinden sich Lisa und ihr Diplomaten-Ehemann Walter 15 Jahre nach Kriegsende auf der Überfahrt nach Brasilien. Daran erinnern eine Reling im Hintergrund und ein imaginärer Seegang. Die Reisegesellschaft ist im Stil der Wirtschaftswunderjahre gekleidet. Die Lagerinsassen, die die aufbrechende Erinnerung an das KZ (in der zweiten Handlungsebene) beherrschen, sind angezogen wie zur Zeit ihrer Verhaftung und Deportation.

Das ist eine Verfremdung, die das Grauen scheinbar in die Ferne rückt, es in Wahrheit aber näher heranholt. Auch die SS-Leute geben ihre zynischen Sprüche nicht (mehr) in schwarzen Uniformen, sondern – erschreckender – im Wohlstandswunder-Biedermann-Habitus von sich. Den Zivilisationsbruch und die Versuche der Täter, ihn zu vertuschen, bis ins Hier und Heute zu verfolgen, gelingt erstklassig.

Wie Roland Kluttig und die Staatskapelle Weimar dem Reichtum und der Originalität von Weinbergs Musik zu ihrem Recht verhelfen, rückt den jüdischen Schostakowitsch-Schüler, der nur knapp den Nazis und dem Gulag entkommen ist, ins rechte Licht. Emma Moore (Marta) und Sarah Mehnert (Lisa) führen das durchweg großartige Ensemble an.

Die Oper wird am 25. April, 10. Mai, 23. Mai und 9. Juni erneut am Deutschen Nationaltheater in Weimar aufgeführt.

Hans-Jürgen Papier

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