der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und
träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland
Paul Celan: »Todesfuge«
Bei einem Treffen der Gruppe 47 im Jahr 1952 trägt Paul Celan die »Todesfuge« vor und erlebt eine existenzielle Niederlage. Sieben Jahre nach dem Ende der Schoa lehnt das selbstbewusste Neo-Establishment die Auseinandersetzung mit seiner Verantwortung brüsk ab. Die Gruppe 47 erweist sich – um es ein wenig pointiert zu formulieren – als ein antisemitischer Saustall, als Quelle des alten Antisemitismus in neuer Verpackung.
Günter Eich beantragte zum 1. Mai 1933 seine Aufnahme in die NSDAP und arbeitete für die literarische Zensurstelle beim Oberkommando der Wehrmacht. Später sollte er sich großzügig von Schuld freisprechen. Siegfried Lenz wusste auch nicht so genau, wie er in der NSDAP gelandet war. Karl Krolow trat 1937 in die NSDAP ein und schrieb gerne seinen öden Kitsch für »Das Reich«.
Martin Walsers Paulskirchenrede
Martin Walser wurde 1944 NS-Mitglied und blieb, was er wohl immer war: ein Antisemit. Neben seiner umjubelten Paulskirchenrede, die Ignatz Bubis und seine Frau schockiert zur Kenntnis nehmen mussten, sitzend, während der Rest des Shitbürgertum-Saals begeistert stehend applaudierte, dass da jemand endlich für die Deutschen Einspruch einlegte gegen die »Moralkeulen« Auschwitz und Holocaust.
»Der liest ja wie Goebbels«, hieß es in der Gruppe 47 über Paul Celan.
Wenig später erschien dann Walsers Roman Tod eines Kritikers, der, voller antisemitischer Klischees, mit Marcel Reich-Ranicki abrechnete. Dieter Wellershoff konnte sich nicht daran erinnern, dass er einen Aufnahmeantrag an die NSDAP gestellt hatte, nachdem das Bundesarchiv im Jahr 2009 seine Mitgliedsnummer veröffentlicht hatte. Das waren also diejenigen, die, wie es Hans Werner Richter für die Gruppe 47 formulierte, »demokratische Elitenbildung auf dem Gebiet der Literatur und der Publizistik« verantworten wollten.
Die Gruppe 47: eine zentrale Akademie des Shitbürgertums, ähnlich wie der PEN-Club in Deutschland. Walter Jens erinnerte sich 1976 an Celans Lesung: »Als Celan zum ersten Mal auftrat, da sagte man: ›Das kann doch kaum jemand hören!‹, er las sehr pathetisch. Wir haben darüber gelacht, ›Der liest ja wie Goebbels!‹ sagte einer.« Das muss man sich vorstellen, dass hier einer berichtet, der sieben Jahre vor der berichteten Lesung noch in der NSDAP war.
Walter Jens über »entartete Literatur«
Zehn Jahre zuvor hatte der 19-jährige Walter Jens als Mitglied des NS-Studentenbundes eine Rede über »entartete Literatur« gehalten. All das wurde nicht thematisiert im sogenannten Neuanfang der deutschen Literatur in der Gruppe 47. Stattdessen wurde die »Todesfuge«, so Jens, »ein Reinfall in der Gruppe«. Celan war daraufhin bei den Treffen der Gruppe nie mehr zugegen.
So etwas geht nur, wenn in dissozialer Art die eigene Schuld abgespalten ist. Daraus kann keine Kunst erwachsen, man kann aber wie die höhnischen Nachkriegsliteraten einen stumpfen, öden Realismus draufkippen. Celans Gedicht ist am inneren Nazitum dieser Gruppe gescheitert.
Thomas Schmid hat darauf hingewiesen, dass Alfred Andersch in einem als Gedicht verbrämten, damals vielgelobten Pamphlet 1976 die Bundesrepublik wegen des sogenannten Radikalenerlasses unumwunden in die Kontinuität des NS-Regimes rückte. 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb Andersch:
»gibt es wieder / sagen wir / zehntausend / die verhören / die neue gestapo / (…) das neue kz / ist schon errichtet / (…) wie gehabt / ein geruch breitet sich aus / der geruch einer maschine / die gas erzeugt«.
Es ist bemerkenswert: Diese schrille Kritik der Intellektuellen soll und muss davon ablenken, wie sehr sie selbst in diesen Kontinuitäten stehen. (…)
Die Aufarbeitung hat im Bürgertum toxische Bewältigungsstrategien geschaffen.
Die Deutschen waren schlechte Verlierer nach den Napoleonischen Kriegen, nach dem Ersten Weltkrieg noch mehr, und sie sollten es nach dem Zweiten Weltkrieg auf verquere Art und Weise wieder sein. Allen voran eine Bevölkerungsgruppe: das Shitbürgertum.
Die Niederlage der Deutschen war fundamental. Das Land war 1945 eine einzige Trümmerwüste. Angeekelt beugte sich die aufgeklärte Weltöffentlichkeit über das sadistische Freakland und teilte es auf. Der Morgenthau-Plan war eine sehr amerikanische Pointe auf die arische Kitschmegalomanie. Obgleich schon bei der Konferenz von Jalta deutlich wurde, dass man künftig ein irgendwie westlich orientiertes Deutschland benötigen würde, war die Drohgeste dieses Szenarios, Deutschland einfach als Kulturnation auszulöschen, symbolisch hoch wirksam. Danach erschien jede konziliantere Form der Besatzungspolitik umso freundlicher.
Die Deutschen waren als verspätete Nation im 20. Jahrhundert vor allem eine unreife Nation. Als Gesellschaft war es den Deutschen nach 1945 lange nicht vergönnt, aus dem frühkindlichen Entwicklungsstadium herauszutreten. Deshalb blieb das Misstrauen groß. Wie groß, war 1989 zu spüren, als die vermeintlichen Freunde im Westen, wie Margaret Thatcher und François Mitterrand, nur äußerst zögerlich einer Wiedervereinigung zustimmten.
Die Deutschen hatten ihre Abgründe nicht integriert
Besonders Margaret Thatcher, die engste und loyalste Freundin der jüdischen Community in England, hatte ein ähnliches Bild von den Deutschen wie die Schöpfer von Captain America. Sie und andere spürten, dass die Deutschen ihre Abgründe nicht integriert hatten. Sie vertrauten weniger den linken Eliten als dem bodenständigen katholischen Europäer Helmut Kohl, der erkennbar und ohne Arg den Weg in den Westen angetreten hatte, so wie zuvor schon der Katholik Adenauer.
Das Misstrauen hatte gute Gründe. Die Aufarbeitung der eigenen Schande hat gerade im Bürgertum toxische Bewältigungsstrategien geschaffen. Als Spaltung beziehungsweise Spaltungsabwehr bezeichnet man, so Wikipedia, einen psychischen Abwehrmechanismus, der in einer Reaktivierung eines frühkindlichen psychischen Zustands besteht, in dem das Individuum noch keine Integration der positiven und negativen Aspekte des eigenen Selbst und der es umgebenden Objekte entwickelt hat.
Die Regression der Deutschen entstand und entsteht in tiefster Scham. Die Älteren hatten die Bilder der auf Knien mit Zahnbürsten die dreckigen Bürgersteige reinigenden Professoren und Konzertpianistinnen noch in Erinnerung, die Fotodokumente der Leichenberge in den KZs waren veröffentlicht. Natürlich hatten sie nichts gesehen und gehört. Natürlich waren die Nazis immer nur die anderen. Natürlich waren auch sie irgendwie im Widerstand gewesen. Natürlich mussten sie wider Willen in die NSDAP eintreten. Und natürlich wurden sie befreit.
Zuschütten von gefährlichen Abgründen in Bildung und Kultur
Die Alliierten hatten das Land von den Nationalsozialisten befreit, und etwas an dieser Formulierung war richtig. Aber noch mehr daran war falsch. Eigentlich wurden die Deutschen von sich selbst befreit. Sie wurden von ihrem militärischen Gegner begradigt: Die Reeducation der Deutschen bestand zunächst einmal im Zuschütten von deren gefährlichen Abgründen, die zu Recht in ihrer Bildung und Kultur vermutet wurden. Die Befreiung war eine Transformation, eigentlich eine Simultantherapie eines ganzen in Schuld verstrickten Volkes, um dessen Regression in die frühkindliche Spaltung abzuwehren.
Und so fand eine oberflächliche Verschiebung statt. Die Deutschen wurden von ihrem düsteren, dunklen Selbst erlöst, das so direkt und unmittelbar in die abscheulichsten Formen der Barbarei geführt hatte. An der Spitze der Befreier standen die Vereinigten Staaten, und das Interessante ist, dass insbesondere die Amerikaner unmittelbar zum Feindbild gerieten. Nicht erwartbarerweise im Osten des Nachkriegsdeutschlands, sowjetisch besetzt, sondern im Westen, bei Linken, Rechten und den wackligen Vertretern der neuen Mitte.
Günter Grass steht pars pro toto für die Verdrängungsathletik der Nachkriegslinken.
Die Entnazifizierung war gut gemeint. Sie sollte das Herrschaftsgeflecht des Nationalsozialismus in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft entwirren, zerschlagen, zerstören, infrage stellen, ideologisch bekämpfen. Am Ende sollte das Land vom Nationalsozialismus gereinigt sein. Aber die Sache gestaltete sich natürlich vertrackter. Nicht nur unter den Talaren steckte der Muff von 1000 Jahren. Die Nazis waren überall. In einer Art medialem Schauprozess wurden in Nürnberg die schlimmsten von ihnen zwar hingerichtet und ein paar andere weggesperrt, aber natürlich gab es in Schulen, Betrieben, Ämtern und Institutionen erschreckend viel Kontinuität.
Strategie der Abspaltung und Verdrängung
Umso dringender bedurfte es deshalb einer Strategie der Abspaltung und Verdrängung. Und dies nicht nur beim geschniegelten Ex-Nazi von nebenan, der nun als ehrenamtlicher Blockwart die neu gebauten Mietkasernen überwachte, sondern auch bei den vermeintlichen Lichtgestalten der Nachkriegskultur. Die moralische Instanz Günter Grass, eine Art Leitfigur des institutionalisierten Antifaschismus der Bonner Republik, erinnerte sich erst kurz (und ziemlich PR-tauglich) vor der Veröffentlichung seiner Memoiren daran, dass er bei der Waffen-SS gewesen war.
Grass steht pars pro toto für die Verdrängungsathletik der Nachkriegslinken. Sie haben die Außenwelt so streng gemustert, um von den eigenen Abgründen absehen zu können. Joachim Fest stellte zu Recht die Frage, »wie sich jemand 60 Jahre lang ständig zum schlechten Gewissen der Nation erheben kann, gerade in Nazi-Fragen« – und dann erst auf den letzten Metern seiner Biografie andeutet, dass und wie tief er selbst in die Barbarei verstrickt war.
Ulf Poschardt: »Shitbürgertum«. Westend, Frankfurt 2025, 176 S., 22 €