Sehen!

»Die Ermittlung«

Es ist ein Film, der sich auf das Wort verlässt: Die Ermittlung von RP Kahl lehnt sich eng an Peter Weiss’ dokumentarisches Theaterstück Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen über den ersten Auschwitz-Prozess (1963 bis 1965) an – ein Klassiker der Erinnerungskultur in West- und Ostdeutschland.

Mit einem 60-köpfigen Ensemble stellt der Film nach Weiss’ Vorbild den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten (unter anderem Wachmänner, Lagerärzte und der Lager-Apotheker) gegenüber und verdichtet sie – ein Konzept, das voll und ganz aufgeht.

Stark wirken die Nüchternheit einer minimalistischen Kulisse zwischen Gerichtssaal und TV-Studio mit wenigen Tischen, Stühlen und Mikrofonen – und die lebendige Mimik und Gestik, nicht zuletzt von Richter (Rainer Bock), Anklage (Clemens Schick) und Verteidigung (Bernhard Schütz). Alle drei dienen den Zuschauern als emotionaler Filter des Grauens, über das hier verhandelt wird.

Kein abgefilmtes Theater, sondern ein hervorragendes Kinodrama

Dabei wird der Massenmord selbst kein einziges Mal im Bild gezeigt. Der Film ist naturgemäß bedrückend, aber zugleich so fesselnd, dass man trotz seiner Länge (im Original vier Stunden, Kinos wird auch eine Fassung von gut drei Stunden angeboten) nicht in Versuchung gerät, die Vorführung vorzeitig zu verlassen. Denn Die Erinnerung ist kein abgefilmtes Theater, sondern ein hervorragendes Kinodrama.

Der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main war der Versuch, die Verbrechen im größten deutschen NS-Konzentrationslager- und Vernichtungslager juristisch aufzuarbeiten – in der »Strafsache gegen Mulka und andere«. RP Kahls Film zeigt das Leiden der Opfer, die im Zeugenstand um Worte ringen – wie eine schwer traumatisierte Frau, eindringlich gespielt von Sabine Timoteo, die von Menschenversuchen und Zwangssterilisierungen berichtet, und die schäbige Kumpanei der Angeklagten, die ihre Verbrechen im Zweifelsfall »Funktionshäftlingen« in die Schuhe schieben.

Die Filmmusik wird spärlich, aber wirkungsvoll eingesetzt und bringt den Prozessraum zum Klingen. Nur im Abspann wirkt der Gesang vor dem Hintergrund der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau wie ein Zugeständnis an die tendenziell pathetische Untermalung anderer Schoa-Filme. Dennoch auch hier: Nüchternheit in den Bildern, die nachwirkt. An die Worte der Zeuginnen und Zeugen wird man sich noch lange erinnern.

Doch eine Frage bleibt: Warum hat die Berlinale 2024 diesen Film im Februar nicht gezeigt?

Hans-Jürgen Papier

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  26.11.2025

Hommage

Pionier des Erinnerns

Der Filmemacher und Journalist Claude Lanzmann wäre diese Woche 100 Jahre alt geworden. Unser Autor ist ihm mehrmals persönlich begegnet

von Vincent von Wroblewsky  26.11.2025

Zahl der Woche

6500 Rabbiner

Funfacts & Wissenswertes

 26.11.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Coole Nichten, coole Tanten

von Katrin Richter  26.11.2025

Kulturkolumne

Lob der Anwesenheit

Lahav Shani und Jason Stanley: Warum unser Autor nicht nur in der Westend-Synagoge vor Ort ist

von Eugen El  26.11.2025

Film

Shira Haas ist Teil der Netflix-Serie »The Boys from Brazil«

Die israelische Schauspielerin ist aus »Shtisel« und »Unorthodox« bekannt

 26.11.2025

Zwischenruf

Was bleibt von uns?

Was bleibt eigentlich von uns, wenn Apple mal wieder ein Update schickt, das alles löscht? Jede Höhlenmalerei erzählt mehr als eine nicht mehr lesbare Floppy Disk

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025