100. Geburtstag

Die alte Dame und das Gold

Ihre Geschichte hat sie lange Jahre nie erzählt: Margaret Lambert vor ihrem Haus in Queens, New York Foto: Sebastian Moll

Nein, Margaret Lambert mag nicht klagen, wirklich nicht. Es ist keine Floskel, mit der sie auf die Frage antwortet, wie es ihr denn geht. »Ich werde 100 nächste Woche, das ist ein Glück, das nicht vielen Menschen beschert wird«, sagt sie in ihrem unverkennbaren Mix aus New Yorker Akzent und schwäbischer Intonation.

ururgrossmutter Dass sie vor ein paar Wochen hingefallen ist und sich den Arm gebrochen hat, der sie jetzt sehr schmerzt, und dass sie sich deshalb nicht mehr vor die Tür ihres Häuschens im kleinbürgerlichen New Yorker Wohnbezirk Queens traut, nun ja, das sind Dinge, die das Alter eben mit sich bringt und die sie hinnimmt. Ebenso wie den Rummel, der zu ihrem Geburtstag am 12. April um sie gemacht wird und der ihr eigentlich eher unangenehm ist. »Ich freue mich natürlich«, sagt sie diplomatisch, »aber ich bin auch froh, wenn es wieder vorbei ist«. Wenn die vielen Besuche zu Ende sind, die Reporter nicht mehr anrufen und sie sich wieder in Ruhe ihren Büchern und ihren Enkeln, Urenkeln und Ururenkeln widmen kann.

So viel Aufhebens um ihre Person, das hat Margaret Lambert vor fünf Jahren schon einmal erlebt und sie hat sich schon damals nicht so richtig wohl damit gefühlt. Damals kam Berlin 36, der Spielfilm über ihre Lebensgeschichte, in Kinos auf der ganzen Welt, und auf einmal wollte jeder mit ihr sprechen. 65 Jahre lang hatte sie vorher in völliger Anonymität in Queens ihr Leben gelebt. »Die Frauen in meinem Kegelklub sind aus allen Wolken gefallen, als sie mitbekommen haben, wer ich bin. Sie hatten keine Ahnung.«

Lambert hatte nie ihre Geschichte erzählt, sie fand sich selbst nie so interessant oder wichtig. Und auch jetzt noch erscheint ihr das alles übertrieben. Aber sie kann mittlerweile nachvollziehen, dass ihre Vergangenheit die Menschen in ihren Bann schlägt, weil sie so viel über das Jahrhundert sagt, das sie erlebt hat.

alibi-jüdin Berlin 36, das sind der Ort und das Jahr, die das Leben von Margaret Lambert in zwei Hälften teilen. Es ist die Chiffre, die für sie ewig den Moment markiert, an dem die große Weltpolitik sie zum Spielball machte und danach wieder ausspuckte wie einen Kaugummi, der den Geschmack verloren hat.

Genau genommen begann die Geschichte, die der Film 2009 der Welt erzählte, für Margaret Lambert bereits 1934. Damals hieß sie noch Gretel Bergmann. Die Tochter eines jüdischen Fabrikanten aus der schwäbischen Kleinstadt Laupheim besuchte eine Sportakademie in England. Man hatte der talentierten Leichtathletin dazu geraten – so lange, bis der Nazispuk vorbei sein würde, wie es hieß. Doch dann stand eines Tages ihr Vater vor der Tür, völlig außer sich. Man habe ihm gesagt, sie müsse nach Hause kommen, sonst passiere etwas Schlimmes. »Ich habe sofort meine Sachen gepackt, ich hatte ja keine Wahl.«

Gretel Bergmann war als eine von drei Alibi-Juden in der deutschen Olympiamannschaft auserkoren, zusammen mit den »Halbjuden« Helene Mayer und Rudi Ball. Ihre Berufung in die »Kernmannschaft« sollte einen Boykott durch die USA verhindern. Den Kuhhandel zwischen den Nazis und den Amerikanern hatte der damalige IOC-Präsident Avery Brundage eingefädelt, derselbe, der 1972 in München nach dem Attentat auf die israelischen Sportler verkündete: »The Games must go on.« Einen »abscheulichen Menschen« nennt Margaret Lambert Brundage heute noch immer.

Bergmann ging nach Stuttgart und bereitete sich dort artig auf Olympia vor, wohl wissend, dass es zu einem Start ja doch nie kommen würde. »Ein jüdisches Mädchen vor 100.000 Zuschauern, womöglich eine Siegerehrung, bei der Hitler mir hätte gratulieren müssen? Das wäre nie passiert.« »That wouldn’t fly«, sagt sie, die sich bis heute weigert, Deutsch zu sprechen. Fortan lebte sie in ständiger Sorge darum, wie die Nazis sie wohl stoppen würden. »Ich habe mit dem Schlimmsten gerechnet.«

ausgemustert Es ging schließlich relativ glimpflich ab. Am 16. Juli 1936 bekam Gretel Bergmann einen Brief aus Berlin, dass ihre Leistungen eine Nominierung für die olympischen Wettbewerbe nicht rechtfertigen würden. Und das, obwohl sie den letzten Wettbewerb mit einem Vorsprung von 20 Zentimetern vor der Zweitplatzierten gewonnen hatte. Einen Tag zuvor, am 15. Juli, hatten die US-Athleten in New York den Dampfer nach Deutschland bestiegen.

Von den Berliner Spielen selbst bekam Gretel Bergmann nichts mehr mit. Sie weiß nicht einmal mehr genau, wo sie sich während der Zeit aufgehalten hat. »Ich glaube, ich bin nach Baden-Baden gefahren. Ich wollte nur weg von allem.« Ihr geliebter Sport, von den Nazis so übel missbraucht, war ihr inzwischen egal, sie wollte nur noch eines – raus aus Deutschland. Kurz darauf war sie unterwegs nach New York.

Hier endet das Leinwand-Drama, an dem Gretel Bergmann allerlei Ungenauigkeiten findet. Etwa, dass sie ein freundschaftliches Verhältnis mit Dora Ratjen gehabt habe, der Hochspringerin, die die Nazis aufgeboten hatten, um im Zweifel einen Sieg von Bergmann zu verhindern. Ratjen war, wie sich zwei Jahre später herausstellte, ein Mann.

Eine Verbundenheit der beiden, wie der Film sie konstruierte, auf der Erkenntnis fußend, dass sie beide von den Nazis missbraucht wurden, so Gretel Bergmann heute, gab es jedoch nicht. Ebenso wenig wie Intrigen innerhalb der deutschen Mannschaft gegen sie: »Wir hatten ein ganz normales sportliches Verhältnis.«

emigration Als Gretel Bergmann in New York ankam, war sie 24 Jahre alt und voller Bitterkeit. Die Welt ihrer Kindheit und Jugend, die sie als heil und glücklich empfunden hatte, war unwiederbringlich verschwunden. Die Welt, in der die behütete Industriellentochter nach Herzenslust im Sportverein in Laupheim laufen und springen und schwimmen und Fußball spielen konnte und sie für alle nur die Gretel war und keine Jüdin. »Religion hat in unserem Haus keine Rolle gespielt«, sagt sie. Sie sei sogar mit ihrer besten Freundin in den katholischen Gottesdienst gegangen, »weil wir eben alles zusammen gemacht haben«.

Doch jetzt war auf einmal alles anders. Ihre Sportkarriere war jäh abgebrochen worden, sie musste sich in New York mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Zeit zum Training hatte sie kaum mehr, und es mangelte oft an Geld für ein U-Bahnticket zum Stadion. Sie ging putzen, war Wäscherin und betreute als Krankengymnastin reiche Damen von der Upper East Side. Und sie musste mit der Ungewissheit darüber leben, wie es in Deutschland wohl ihren Lieben erging.

1938 kam ihr Verlobter und späterer Ehemann Bruno, auch er ein Sportler, in die USA. 1939 dann auch die Eltern. Ihr Vater hatte sechs Wochen im Lager verbracht und sich dort gesundheitliche Schäden zugezogen, die er sein Leben lang mit sich trug. Mit Beziehungen hatte er es geschafft, einen Flug nach London zu bekommen, wo er sich dann einschiffte. Doch die Familie blieb vom Holocaust nicht verschont. Die gesamte Familie ihres Mannes, der nach 75 Ehejahren im vergangenen Jahr verstarb, wurde ermordet. Mehr als 30 Menschen.

Diese Schicksale und die der übrigen sechs Millionen europäischer Juden waren für Gretel Bergmann der Grund, warum sie ihren Kegelschwestern nie ihre Geschichte erzählt hat, warum sie überhaupt niemandem ihre Geschichte erzählt hat, bevor 2009 der Film herauskam. »Ich habe eine Olympiamedaille verloren«, sagt sie. »Die anderen haben ihr Leben verloren.«

wut Nicht, dass es nicht an ihr genagt hätte. Noch bei den Olympischen Spielen in London 2012 konnte sie sich nicht den Hochsprungwettbewerb der Frauen anschauen, ohne daran zu denken, was sie verpasst hat. »Ich war 1936 die Beste in der Welt«, sagt sie. 1,60 Meter war damals die Höhe für die Goldmedaille, und 1,60 Meter war Gretel Bergmanns Bestleistung. In Berlin, da ist sie sich sicher, hätte sie noch mehr geschafft. »Ich hatte so viel Wut im Bauch, ich wäre mindestens 1,70 gesprungen.«

Nun, mit beinahe 100, ebbt die Wut endlich ab. Der Film hat dabei geholfen. »Es hat gutgetan, dass meine Geschichte bekannt wurde«, allen Ungenauigkeiten zum Trotz. Es hat Entschuldigungen vom IOC und vom deutschen Nationalen Olympischen Komitee gegeben sowie Einladungen nach Deutschland. »Ich habe gesehen, dass die jungen Deutschen etwas aus all dem gelernt haben. Man war ungeheuer nett zu mir.« Ein Stadion in Laupheim und eine Schule in Hamburg wurden nach ihr benannt. »Wenn die wüssten, wie schlecht ich in der Schule war, hätten sie das nie gemacht«, witzelt die alte Dame.

Gretel Bergmann hat Frieden gefunden, aber sie hat dazu beinahe ihre gesamten 100 Lebensjahre gebraucht. Und sie kann noch immer zornig werden, wenn sie etwa auf das Jahrhundert zurückblickt, dass sie miterlebt hat und das so viel Krieg und Gewalt gesehen hat wie keines zuvor. »Und die Leute hören einfach nicht auf damit. Das muss doch mal ein Ende haben.«

Was ist die Lehre aus Berlin 1936? Hätte der Westen die Putin-Spiele von Sotschi boykottieren sollen? »Auf keinen Fall«, kommt es wie aus der Startpistole geschossen: »Warum sollen denn immer die Sportler, die so hart gearbeitet haben, die Dummen sein?« Es reicht Gretel Bergmann, dass sie um ihren Ruhm betrogen wurde. Das soll nie wieder einem Sportler passieren.

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