Berlin

Desintegriert euch!

Fordert einen Schulterschluss zwischen Muslimen und Juden: Verleger Koray Yilmaz-Günay (3.v.l.) Foto: Miron Tenenberg

Mit zittriger Stimme eröffnet Friederike Tappe-Hornbostel den Kongress »Desintegration« im Berliner Maxim Gorki Theater. Es wirkt, als hätte sich die Leiterin der Kommunikation der Kulturstiftung des Bundes bereits vom Programm des Abends »Exorzismus: Sind die deutsche und jüdische Seele voneinander zu trennen?« einschüchtern lassen. Die Kuratoren Max Czollek und Sasha Salzmann setzen bei der Frage nach der jüdischen Identität bewusst auf Provokation.

Zu Beginn der Tagung witzelt man über Deutschland und belächelt Nichtjuden wegen ihres ungelenken Umgangs mit Normaljuden; so weit so heiter. Das zumeist junge Publikum ist betört vom zwanglosen Umgang der Redner mit dem Thema um die Juden. Dann holt jemand die »Auschwitz-Keule« heraus, und die zuvor beschwingte Laune versiegt. Es ist das alte Muster des alten Themas: Haben wir uns von den Folgen der Schoa befreit?

ELES Der Soziologe Michal Bodemann stellte sich diese Frage bereits vor 30 Jahren und findet die heutige Diskussion wegen der Verdichtung jüdischen Lebens in Deutschland vielfältiger als damals. Der Blick ins Publikum und auf die Teilnehmer verdeutlichen das. Viele junge Leute aus dem Kreis des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerkes (ELES) sind anwesend. Es könnte auch eine ihrer Veranstaltungen sein, da die Stiftung sich zu Recht aus dem facettenreichen Leben der Studenten speist.

Dementsprechend persönlich zeigen die Teilnehmer den Umgang mit ihrer jüdischen Identität. Plötzlich ist das Programm doch nicht mehr so provokant, wie es die Titel suggerieren. Das modern-orthodoxe Paar Cecilia und Yair Haendler gibt eine ihrer Bibeldiskussionen mit reger Publikumsbeteiligung, und das »Streitgespräch: Ghettojude!« mit Michel Friedman ist ein zahmer Empfang Salzmanns, die den Moderator über persönliche Verantwortung gegenüber Rechtspopulisten sprechen und über die Methoden zur Identifizierung jüdischer Kontingentflüchtlinge schweigen lässt. Währenddessen kocht sie ihm Espresso.

In der kulturübergreifenden Diskussion behauptet der politische Aktivist Koray Yilmaz-Günay, dass Allianzen nur unter Bedrängnis gebildet werden und schon deswegen ein Schulterschluss zwischen Muslimen und Juden notwendig sei. Über die Veranstaltungen hinweg fallen nonchalant Begriffe wie »Endlösung«, »Juden-AG« und »Quotenmuslim«, als gehörten sie zum Inventar der alltäglichen Sprache. Es herrscht Einigkeit: Es ist richtig, wie es von uns gemacht wird, weil es von uns gemacht wird.

mitreißend Erst mit Daniel Kahns Performance hört der Kuschelkurs auf. Das mit Norah Haakh entwickelte Stück Dschingis Cohn überschreitet gezielt die Grenzen des guten Geschmacks, indem der Altnazi Schatz von dem Geist eines seiner jüdischen Opfer befallen wird. Es folgt ein mitreißendes Konzert des Klezmermusikers Kahns, mit dem »March of the Jobless Corps« und »Six Million Germans«.

Zum Ende liest Kahn aus einer Originalausgabe von Hitlers Mein Kampf. Er fordert das Publikum auf, ihm in den Hof des Theaters zu folgen und das Buch dort zu verbrennen. Aber Kahn wirkt von dem rezitierten Inhalt persönlich beleidigt und wiederholt schnippisch, dass er die 150 Dollar, die das Buch gekostet hätte, noch nie besser verbrannt habe.

Die Provokation, die er bewirken möchte, kippt durch seine Hilflosigkeit ins Gegenteil. Durch die persönliche statt künstlerische Handlung haucht er der Bücherverbrennung den Ekel und die Widerwärtigkeit der Nationalsozialisten ein. Schade. Wäre er die 300 Meter zum Bebelplatz gelaufen und hätte dort um das Feuer die Rachefantasie gegen sechs Millionen Deutsche besungen, wäre sein Affront angesichts des Aufmarsches der rechtspopulistischen AfD am selben Tag nicht verpufft.

Und dennoch: Die »Desintegration«-Tagung ist ein gelungener Anfang der Debatte um die junge Dritte Generation. Man darf gespannt sein auf den Nachfolge-Kongress – und seine nächsten gezielten Provokationen.

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