literaturkritik

Der »schärfste Verreißer«

Alfred Kerr 1867–1948 Foto: dpa

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Der »schärfste Verreißer«

Der vierte Band der Alfred-Kerr-Werkausgabe versammelt Texte von 1887 bis 1948

von Ludger Heid  14.01.2010 00:00 Uhr

Er war berühmt, für manche auch berüchtigt. Karl Kraus nannte ihn eine »Feuilletonschlampe«, Moritz Heimann dagegen ein »Kritikergenie«. Was Marcel Reich-Ranicki in der Gegenwart, das war Alfred Kerr in der Wilhelminischen und Weimarer Zeit: der »schärfste Verreißer«. Seine öffentliche Bedeutung zog er aus der Grenzüberschreitung von Literatur- und Theaterkritik in die politische Polemik. Bei alldem war er auch ein Entdecker von Autoren sowie ein einflussreicher Vermittler in der Literatur. Dieser unterbelichteten Seite des Kerrschen Schaffens ist der vierte Band der verdienstvollen Gesamtausgabe gewidmet, herausgegeben von Deborah Vietor-Engländer und Margret Rühle, die kurz nach Abschluss der editorischen Arbeit starb. Den ersten Text des Bands, eine Lessing-Verteidigung, verfasste Kerr 1887 zwischen Abitur und Studienbeginn mit 19 Jahren. Bereits hier klingen analytische Schärfe, Polemik, Ironie und Witz an, vor allem Lust am Streit. Der letzte Text der Sammlung stammt aus dem Jahre 1948. Nach 15 Jahren Exil in London war der 81-jährige Kerr besuchsweise zu einer Vortragsreise durch Deutschland aufgebrochen. Am ersten Tag erlitt er in Hamburg einen Schlaganfall und setzte seinem Leben wenige Wochen später selbst ein Ende.Die Kerrschen Protagonisten waren vor allem Heine, Ibsen, Schnitzler, Wedekind und Hauptmann. Die »chaotische« Else-Lasker-Schüler förderte er, nachdem er sich anfangs über sie mokiert hatte. Die Poetin dankte ihrem Förderer mit einem Gedicht: »Was Dr. Kerr bedeute / für die Literatur von heute – / Ein Silberling im Brot.«Kerr, Sohn aus orthodoxem Haus, empfand die Herkunft »von diesem Fabelvolk« als etwas Beglückendes.

Jedes Verleugnen des eigenen Judentums hieß für ihn, Wasser auf die Mühlen des Antisemitismus zu schütten. »Jeder feige Vertusch-, Verkriech-, Versteckjude (soll) die Gicht kriegen, Knollen am Popo, und zerspringen.« Kerrs Schriften wurden im Mai 1933 verbrannt. Er kämpfte mit der Waffe des Worts weiter gegen die Nazis und ihre Mitläufer – unter ihnen Gerhart Hauptmann, mit dem ihn eine persönliche Freundschaft verbunden hatte. Allein des Textes Gerhart Hauptmanns Schande wegen lohnt sich die Lektüre dieses Bandes. Eine öffentliche Abrechnung, die ihresgleichen sucht, ein Fluch, wie man ihn selbst aus Kerrs Mund bis dahin nicht gekannt hatte. Mit einem Hauptmann, der sich mit den »klobigen Gefängniswärtern«, den Nazis, eingelassen hatte, gab es keine Gemeinschaft mehr. »Ich kenne diesen Feigling nicht. Und das Bewusstsein der Schande soll ihn würgen in jedem Augenblick. Hauptmann, Gerhart, ist ehrlos geworden.« In klassischer jüdischer Metaphorik schob Kerr hinterher: »Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln; sein Bild begraben im Staub.«

Marcel Reich-Ranicki schreibt über den Kritiker Kerr, dass »die Egozentrik die Voraussetzung seiner kritischen Tätigkeit und darüber hinaus seiner ganzen schriftstellerischen Existenz, die Eitelkeit der Motor seines Schreibens, der Selbstgenuss sein Stilprinzip« war. Wahrscheinlich meinen Großkritiker auch immer ein wenig sich selbst, wenn sie über andere, noch größere Kritiker schreiben.

Alfred Kerr: Sucher und Selige, Moralisten und Büßer. Literarische Ermittlungen. Bd. IV der Werkausgabe, hrsg. v. Margret Rühle und Deborah Vietor-Engländer, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2009, 519 S., 49 €

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