Finale

Der Rest der Welt

Wollen Sie mal ein richtig lustiges Experiment wagen? Dann nehmen Sie drei Kleinkinder, am besten im Alter von drei bis sechs, und steigen Sie in einen ICE Ihrer Wahl – aber die 1. Klasse muss es sein. Scharen Sie die Gören unauffällig hinter sich, besteigen den Zug mit Unschuldsmiene und dann, irgendwo in der Nähe von Sitzplatz 56, machen Sie einen eleganten Ausfallschritt nach rechts und signalisieren den Kids: »Go!« Während die Kleinen emsig Knete auf die Polster verteilen und mit ihren Nasen Schmierspuren auf den Fenstern hinterlassen, erleben Sie ihrerseits ein herzerwärmendes Empfangskomitee von hochgezogenen Augenbrauen, gerümpften Nasen, abruptem Sitzplatzwechsel.

Und Sie erfahren voller Erstaunen, wie Sie auf einmal die Fähigkeit zum Gedankenlesen entwickeln: Bitterböse kleine Gedankenwölkchen füllen auf diese Weise bald den Luftraum in der 1. Klasse, und in ihnen steht wahlweise »Unterschicht-Mutti«, »Sozialhilfe-Rudel«, »Freak« oder »hier fehl am Platz«. Schon bald erscheint auch der Schaffner und geleitet Sie galant zum Mutter-Kind-Abteil, wo es heimelig nach Windelwechsel riecht: Die Passagiere der 1. Klasse atmen auf.

Frum-Society Genau andersherum läuft dieses Szenario, wenn Sie im jüdischen Antwerpen wohnen, auch »Tschulent-Insel« genannt: Denn hier nimmt Sie unterhalb der Drei-Kinder-Grenze kein Mensch ernst. Vielmehr sollten Sie vier oder sechs Gören anstreben, um in der »Frum-Society« etwas zu gelten. Es empfiehlt sich zum Beispiel, zum Einkaufen stets eine eindrucksvolle Kinderschar mitzunehmen, widrigenfalls das Verkaufspersonal Ihnen keinerlei Beachtung schenken wird.

Zum Beispiel der Klamottenladen auf der Belgielei-Straße: Der an der Kasse stehende Belser Chassid, der mit über dem Tresen baumelnden Schläfenlocken in die neueste Ausgabe von »Tiferet« vertieft ist, ignoriert Sie stets geflissentlich. Wenn aber genügend Kids mit von der Partie sind, ist es, als ob Sie auf einmal die Batterien in einen Duracell-Hasen eingelegt hätten: Der Chassid sowie ein Trupp von Damen mit Scheitel, Tichel und fleischfarbenen Stützstrümpfen hoppeln aufgeregt um Sie herum und stopfen die Kleinen mit Bonbons voll. Außerdem kriegen Sie Prozente.

Shopping-Meile Natürlich dürfen Sie sich diese neu gewonnenen Sympathien nicht gleich wieder verscherzen. Es gilt bei den Schnäppchen-Shops der Belser, Satmarer und sonstigen Chassiden auf der Shopping-Meile: Fragen Sie nie, nie, nie nach roten Klamotten (böser Blick!) oder nach kurzärmeligen T-Shirts (»passt nisht«) oder im Schuhgeschäft nach Sandalen (ebenfalls »passt nisht«).

Im Supermarkt sollten Sie Ihren Kindern beibringen, Wangenkneifen und Haartätscheln der Schlange stehenden Sabas und Saftas geduldig zu ertragen und an der Kasse, nach dem Einsacken der reichlichen Gratis-Süßigkeiten und Bonbons, höflich »Shkojech« zu sagen. So viel zum Thema Etikette. Nach erfolgreicher Shopping-Tour packen Sie die Gören dann zusammen und gehen zu »Mamma Mia« koschere Pizza essen.

Und ob Ihre Kleinen dort non-stop nach Eiscreme quäken oder mit Mozzarella-Belag um sich werfen – Sie können sicher sein, dass kein Mensch auch nur mit der Wimper zucken wird. Sie fühlen sich endlich wie jemand, der im Leben einen Dauerplatz in der 1. Klasse gebucht hat.

Glosse

Der Rest der Welt

Friede, Freude, Eierkuchen oder Challot, koschere Croissants und Rugelach

von Margalit Edelstein  09.11.2025

Geschichte

Seismograf jüdischer Lebenswelten

Das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig feiert den 30. Jahrestag seiner Gründung

von Ralf Balke  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025