Ich gebe ein kleines Geheimnis preis. Aber eigentlich ist es gar kein Geheimnis. Viele wissen es einfach nur nicht. Doch vielleicht ist es angesichts von Krieg, Debatten um legitime Israel-Kritik und weltweit ansteigendem Antisemitismus nicht sonderlich sinnvoll, darüber zu sprechen.
Die eine Stimme in meinem Kopf sagt »Tu’s nicht. Damit verschaffst du dir keine Freunde.« Die andere findet: »So ein Blödsinn. Was ist denn schon dabei?« Also tue ich es jetzt trotzdem. Weil ich es erzählen möchte – und weil ich es schön finde. Und dabei ganz viel Geschichte mitschwingt. Doch dazu gleich.
Um den Geduldsfaden also nicht zu überstrapazieren, lüfte ich also das kleine jüdische Geheimnis, das eigentlich nur in der Schweiz bekannt ist: 825. Nur drei Ziffern. Man könnte meinen, es sei ein Code. Ja, es ist ein Code. Aber nicht von irgendeinem Safe oder ein Online-Passwort. Es ist der Code, mit dem sich Jüdinnen und Juden in der Schweiz seit über hundert Jahren selbst bezeichnen.
Es ist ein alter Ausdruck, den schon meine Großeltern verwendeten, wenn sie über andere jüdische Mitmenschen sprachen (genau, das tut jede und jeder und ist wohl menschlich), um nicht zu sagen, »der oder die ist auch jüdisch«. So heißt es eben »Der ist doch auch achtzweifünf« oder »Weißt du, ob sie eine Achtfünfundzwanzigerin ist?«.
Im Ausdruck schwingt über 120 Jahre jüdische Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit.
Was von außen vielleicht als unnötige Segregation wirkt und den Vorwurf wecken könnte, es liege in der jüdischen DNA, sich von der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft bewusst abgrenzen zu wollen (deshalb auch meine eine innere Stimme), ist nichts als ein historisches Relikt, das bis in die Gegenwart überdauert hat. Im Ausdruck schwingt über 120 Jahre jüdische Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit.
Aber der Reihe nach: Die erste Eisenbahnstrecke der Schweiz war die der »Spanisch-Brötli-Bahn«, eröffnet 1847. Sie führte von Zürich nach Baden (der Name leitet sich übrigens von den »Spanisch Brötli« ab, einem Gebäck, das damals von Zürchern in Baden gekauft und mit der Bahn zurücktransportiert wurde). In diese Zeit fiel auch die Emanzipation der Juden in der Schweiz. Die schweizerische Bundesverfassung gewährte den Juden erst 1866 die Niederlassungsfreiheit und schließlich 1874 auch das Recht der freien Religionsausübung.
Davor durften Juden in der Schweiz nur in den beiden Surbtaler Dörfer Lengnau und Endingen wohnen. Da viele von ihnen Handel betrieben, so erzählt man sich, mussten sie jeden Tag um 8 Uhr 25 den Zug von Baden nach Zürich nehmen, um dort ihre Waren zu verkaufen. Damit etablierte sich also der Ausdruck 825, was nichts anderes hieß, als dass »der jüdische Händlerkollege auch um 8 Uhr 25 mit auf den Zug geht«. Und irgendwann zur Bezeichnung dafür wurde, dass die Person auch jüdisch sei.
Geheimnis also gelüftet. Es gab sogar einmal in Zürich ein koscheres Restaurant mit dem Namen »Eight-Twenty-Five«. Der Ausdruck überdauerte das Restaurant und ist in der jüdischen Deutschschweiz bis heute in Gebrauch. Liebevoll und keineswegs wertend gemeint, wenn man einfach wissen möchte, ob der- oder diejenige auch jüdisch ist.