Na gut, ich gebʼs zu: Auch unsere Familie hat die Euphorie erreicht. Meine kleine Tochter, die sehr bald ihren vierten Geburtstag feiert, liebt diese Kreaturen mit dem Horn auf dem Kopf und – wenn möglich – mit Schweif und Mähne in Regenbogenfarben. Es sind nicht die Prinzessinnen und auch nicht die Meerjungfrauen, die ihre Aufmerksamkeit in der Krimskrams-Abteilung des Kaufhauses erregen. Es ist dieses hybride Tier, das eigentlich gar keines ist und meist mit geschlossenen Augen durch die Konsumwelt reitet, das sie fasziniert.
Doch warum nur? Was löst der Anblick des Einhorns bei einem kleinen Kind aus? Zugegeben, es ist das edelste aller Fabelwesen. Trotzdem treibt das Nicht-Tier seit einigen Jahren kuriose Blüten. Von Einhorn-Leggings über Schokolade zu Duschgels, Trinkflaschen, Kostümen, Tassen, Lampen … Die Liste ist lang und ließe sich fortsetzen. Ein Glück, dass meine Tochter auch eine Vorliebe für Pferde hat, womit sich vielleicht auch jene für Einhörner – zumindest teilweise – erklären lässt.
Selbstverständlich ist nichts dagegen einzuwenden, dass die Figur des Einhorns dank seiner Assoziation mit Regenbögen, Wolken und leuchtenden Farben auch für Freude und Abenteuer steht. Damit sind sie für Kinder zweifellos Symbole von Trost und Unterstützung. Auch in der Populärkultur gelten sie als weise, hilfsbereite, ebenso sanfte wie selbstbewusste Wesen. Das kommt nicht von ungefähr.
Die Faszination für Einhörner existiert bereits seit Jahrhunderten.
Die Faszination für Einhörner existiert bereits seit Jahrhunderten. Menschen suchten in ihrem Hang nach Eskapismus nach geheimnisvoll-magischen Lösungen, um sicherzustellen, dass dem irdischen Leben für einen kurzen Moment die Flucht aus der Realität gelingt. Das Einhorn diente als Allegorie, wurde zur Projektionsfläche von Träumen und Wünschen – und tut dies offensichtlich bis heute.
Bereits in der Antike wurde es von bedeutenden Denkern wie Aristoteles erwähnt. Unter dem Begriff »Re’em« findet man es auch in alten jüdischen Texten, oft in Zusammenhang mit Stärke und Unbezwingbarkeit. Die Anmut wurde ihm später hinzugedichtet, im Mittelalter war es Symbol für Reinheit, verbunden mit dem Drang nach Unabhängigkeit.
Dieses Moment der Freiheit fand Eingang in die moderne Literatur. Ein Streifzug durch die Kinderbuchabteilung – ein »Safe Space«, wo neben Dinosauriern und Elfen auch Einhörner ihren Platz haben dürfen – bringt mich zum Schmunzeln, wenn ich meiner Tochter Bücher wie Das NEINhorn vorlese. Ein lustiger Text (in Reimform!) von 2019 aus der Feder von Marc-Uwe Kling über ein kleines Einhorn, das rundum geliebt und verwöhnt wird und an der süßlichen Einhorn-Welt nicht den geringsten Gefallen findet.
Die Folge: Es fällt zunehmend durch unerwünschte Verhaltensweisen auf und quittiert alles mit »Nein«. Eine liebevolle Würdigung aller Kinder mit starkem Willen und ein Wink an alle pädagogisch ambitionierten Eltern, die sich an der lila Welt der Einhörner stören, aber darauf bedacht sind, süße und liebe Kinder zu erziehen. Vielleicht bin ich irgendwie doch froh, dass meine Tochter Einhörner mag.