Glosse

Der Rest der Welt

Foto: picture alliance / Mary Evans/AF Archive/Constantin

Mann, gehtʼs mir schlecht. Mich hat eine Grippe erwischt, und ich fühle mich hundeelend. Früher, als ich noch klein war, hat das Kranksein irgendwie mehr Spaß gemacht. Ich erinnere mich, einmal hatte ich 40 Grad Fieber, und meine Mutter saß an meinem Bett und las mir die gesamte Schachnovelle von Stefan Zweig in einem Rutsch vor. Ich war so gebannt und fasziniert, dass ich meine Krankheit darüber vergaß. Diese paar Stunden gehören zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen.

Gerade liege ich im Bett, umgeben von Bergen benutzter Taschentücher, und tue mir selbst leid. Meine Tochter kommt herein und bringt mir eine Tasse Tee. Ich erzähle ihr von der Schachnovelle. Sie ist gleich Feuer und Flamme, und – krank oder nicht – ich soll ihr auch unbedingt etwas vorlesen, jetzt gleich, am besten irgendein Old-School-Buch aus meiner Kindheit.

Ich erhebe mich von meinem Krankenlager, um in meinem Bücherschrank zu wühlen. Und da steht es auch schon, ganz oben, das Buch aller Bücher, das Lieblingsbuch meiner Kindheit: in einem kupferfarben schimmernden Einband, auf der Vorderseite ein Medaillon, umrahmt von zwei rätselhaften Schlangen, mit dem Titel in altertümlichen Buchstaben: Die unendliche Geschichte! Das Buch ist in zwei Farben gedruckt, vornehmes Bordeauxrot und giftiges Petrolgrün, und hat 26 majestätische Buchstaben-Vignetten von A bis Z, für jedes Kapitel eine.

Ich greife mir das Buch, und sofort bin ich wieder im Jahr 1979.

Ich greife mir das Buch, und sofort bin ich wieder im Jahr 1979: Meine Babysitter haben mir das Buch gerade geschenkt. Ich hatte eine ganze Riege von Babysittern, es waren Geschwister, Renate, Regine, Renke, Markus und Michael. Allesamt langhaarig, die Jungs mit langen Bärten, trugen sie stets Latzhosen oder fließende indische Gewänder, irgendwelche Kettchen und Amulette, und immer hing ihnen ein sanfter Geruch nach Räucherstäbchen an, sie kamen stets auf klapperigen alten Fahrrädern daher, über und über beklebt mit Anti-Atomkraft-Stickern.

Sie glaubten mit einer Art Inbrunst an die Macht der Fantasie, an das Träumen und an die Wunder des Alltäglichen, und ich glaube, das wollten sie mir vermitteln, indem sie mir Die unendliche Geschichte kapitelweise jeden Abend vorlasen, die Geschichte von einem kleinen, blassen moppeligen, ängstlichen Kind (genau wie ich!), das in die wunderbare Welt der Phantasien reist und den Weg nach Hause beinahe nicht mehr findet.

Ich schlage das Buch auf und fange an, meiner Tochter vorzulesen. Die Geschichte beginnt, und das kleine, mollige, ängstliche Kind findet in einem alten Antiquariat ein magisches Buch, mit einem kupferfarbenen Einband, darauf ein Medaillon mit zwei Schlangen … Das Buch ist in zwei Farben gedruckt, vornehmes Bordeauxrot und giftiges Petrolgrün, und hat 26 majestätische Buchstaben-Vignetten von A bis Z, für jedes Kapitel eine. Es heißt: Die unendliche Geschichte.

»Woooooow«, wispert meine Tochter und betastet ehrfürchtig den seidigen Bucheinband. Ich lese ihr stundenlang vor, meine Grippe habe ich schon längst vergessen. Inzwischen sind wir bei Kapitel sieben, der Held des Buches fliegt gerade auf einem weißen Drachen durch die Lüfte. So, jetzt habe ich leider keine Zeit mehr, ich muss weiterlesen.

Glosse

Der Rest der Welt

Von Kaffee-Helden, Underdogs und Magenproblemen

von Margalit Edelstein  08.12.2025

Eurovision Song Contest

»Ihr wollt nicht mehr, dass wir mit Euch singen?«

Dana International, die Siegerin von 1998, über den angekündigten Boykott mehrerer Länder wegen der Teilnahme Israels

 08.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  08.12.2025

Vortrag

Über die antizionistische Dominanz in der Nahostforschung

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat im Rahmen der Herbstakademie des Tikvah-Instituts über die Situation der Universitäten nach dem 7. Oktober 2023 referiert. Eine Dokumentation seines Vortrags

 07.12.2025

Zwischenruf

Die außerirdische Logik der Eurovision

Was würden wohl Aliens über die absurden Vorgänge rund um die Teilnahme des jüdischen Staates an dem Musikwettbewerb denken?

von Imanuel Marcus  07.12.2025

Los Angeles

Schaffer »visionärer Architektur«: Trauer um Frank Gehry

Der jüdische Architekt war einer der berühmtesten weltweit und schuf ikonische Gebäude unter anderem in Los Angeles, Düsseldorf und Weil am Rhein. Nach dem Tod von Frank Gehry nehmen Bewunderer Abschied

 07.12.2025

Aufgegabelt

Plätzchen mit Halva

Rezepte und Leckeres

 05.12.2025

Kulturkolumne

Bestseller sind Zeitverschwendung

Meine Lektüre-Empfehlung: Lesen Sie lieber Thomas Mann als Florian Illies!

von Ayala Goldmann  05.12.2025

TV-Tipp

»Eigentlich besitzen sie eine Katzenfarm« - Arte-Doku blickt zurück auf das Filmschaffen von Joel und Ethan Coen

Die Coen-Brüder haben das US-Kino geprägt und mit vielen Stars zusammengearbeitet. Eine Dokumentation versucht nun, das Geheimnis ihres Erfolges zu entschlüsseln - und stößt vor allem auf interessante Frauen

von Manfred Riepe  05.12.2025