Glosse

Der Rest der Welt

Foto: Getty Images

Was soll man sagen: Die Zeiten sind seltsam. Jetzt ist auch noch Fußball-EM! Vier Wochen, bis in den Juli, müssen alle Nicht-Fußball-Fans ganz stark sein. Die Supermärkte sind voll mit schwarz-rot-goldenen Plastikbrillen oder Papierschlangen, und ein großer Süßigkeitenhersteller verspricht Sammelspaß und tolle Prämien, wenn man Aktionspackungen seines überzuckerten Zeugs kauft. Weiße Socken mit dem Schriftzug »Teamgeist« sind so eine Prämie – Yippie! Wer wollte die nicht schon immer mal haben! Irony off.

So, und wo gibt es Ablenkung von dem Ganzen? Bei YouTube mit dem, wenn wir alle mal ehrlich sind, einzig wahren Fußballspiel, dem Philosopher’s Match von Monty Python.

Na, oder bei Netflix! Dort läuft nämlich gerade eine Sendung, die so doof ist, dass EM-Fußballspiele wie intellektuelle Debatten wirken. Buying London heißt sie und ist eine Art Germany’s Next Topmodel der Immobilienbranche, aber ohne die Topmodels, sondern nur mit dem bitchigen Teil davon. Gezeter, Neid, Intrigen – und dazwischen der Chef, der die »scripted reality« fast perfekt meistert.

Aber mal von vorn: Daniel Daggers, das ist der Chef, hat DDRE Global gegründet. Das Unternehmen, so die Selbstbeschreibung, ist auf Luxusimmobilien zu luxuriösen Preisen spezialisiert. Häuser mit vier Räumen und sechs Bädern, Bäder mit Terrassen und Parkplatz, Parkplätze mit Häusern, also alles, was man eben so braucht als Single.

Wo gibt es Ablenkung? Bei YouTube mit dem einzig wahren Fußballspiel, dem Philosopher’s Match von Monty Python.

Daggers beschrieb in einem Interview mit der britischen Zeitung »Jewish News«, dass er – seine Mutter ist Israelin, sein Vater Brite – recht normal aufgewachsen sei. Irgendwann sei ihm ein Licht aufgegangen, was er mit seinem Leben anfangen wolle. Das muss recht früh gewesen sein, denn mit 44 Jahren könne er – wie er in der Sendung beschreibt – auf 30 Jahre Berufserfahrung zurückblicken.

Das kann sich echt sehen lassen. Was sich weniger sehen lassen kann, das sind die peinlichen Szenen und künstlichen Dialoge seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Advisor genannt. Mal davon abgesehen, dass einige der Advisor so natürlich wirken wie die Dialoge, die sie aufsagen, ist die Handlung erwartbar dünn. Aber was erwarte ich auch? Es ist Netflix, nicht 3sat oder arte.

Ich finde ja, Daniel Daggers sollte mal eine richtige Herausforderung annehmen, eine, im Vergleich zu der der Verkauf eines englischen Anwesens mit Kinosaal und Marmorbar wirkt wie ein Kinderspiel. Daggers sollte im Prenzlauer Berg eine Dreizimmerwohnung, vielleicht so um die 90 Quadratmeter, für eine kleine Familie für 1200 Euro warm finden – ohne Indexmiete, ohne Staffelmiete, ohne die Angst, wegen Eigenbedarf gekündigt zu werden, weil der Besitzer jetzt doch einmal im Jahr selbst drei Wochenenden in der Stadt verbringen will.

Wenn Daggers das schafft, dann schaue ich mir nicht nur die nächste Staffel von Buying London freiwillig an, sondern die gesamte EM und setze auch nicht auf Frankreich als Gewinner. Na? Challenge accepted?

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