Glosse

Der Rest der Welt

Kaffeetrinken mit Freunden nimmt die Gestalt einer Gruppentherapie an. Alle dürfen sich auskotzen und herumwüten. Foto: Getty Images/iStockphoto

Seit einigen Wochen bin ich von Leuten umgeben, die die Nerven verlieren. Gute Freunde verwandeln sich in Griesgrame, andere werden paranoid. Erst vor Kurzem hat mich einer angerufen und behauptet, der Krieg im Nahen Osten richte sich gegen ihn höchstpersönlich. Zum Glück konnte ich ihn umstimmen, der Krieg wird schließlich gegen mich geführt. Aber ich glaube zumindest nicht, dass es dabei nur um meine Wenigkeit geht.

Neuerdings bin ich sehr tolerant. Alle dürfen durchdrehen, alle dürfen mir auf den Wecker gehen. (Nur X. nicht. Du weißt schon, dass du gemeint bist.) Ärgere ich mich über jemanden, versuche ich, es – im Rahmen meiner Möglichkeiten – mit Liebenswürdigkeit zu vergelten. Denn seit dem 7. Oktober sind wir alle im Ausnahmezustand. Warum sollten sich meine Freunde normal verhalten? Außerdem tolerieren sie ja auch mich. Ich sollte nach Ansicht eines Freundes zum HNO-Arzt gehen, weil ich angeblich Zwischenfragen konsequent überhöre. Meine Ohren sind völlig in Ordnung. Dass ich zu viel rede, liegt nur am Krieg!

Bis vor ein paar Tagen dachte ich, im Vergleich zu anderen sei ich sehr ausgeglichen. Leider scheint das gerade zu kippen. Das ist natürlich kein privates Problem, sondern dem Krieg geschuldet. Wie auch die Entwicklung, dass Kaffeetrinken mit Freunden in letzter Zeit die Gestalt einer Gruppentherapie annimmt. Alle dürfen sich auskotzen und herumwüten. Bis zum Schluss Forderungen aufgestellt werden, die ich an dieser Stelle nicht wiedergeben kann. (Was ich gesagt und wie ich mich benommen habe, erfährt ja auch keiner.) Und schaue ich auf »unsere« Bubble bei Facebook, wird mir schwarz vor Augen.

Ein »Freund« freut sich über tote Palästinenser in Gaza

Da freut sich ein »Freund« über tote Palästinenser in Gaza, darf das wirklich wahr sein? Den habe ich wegen Hassrede gemeldet, aber das nützt leider nichts. Andere beharken ihre »Feinde« in einer Lautstärke, die ich nicht hören will. (Auch das ist kein Fall für den Hals-Nasen-Ohren-Arzt!)

Vergangenes Wochenende hatte ich einen Shutdown. Das ist weniger schlimm als ein Breakdown und bedeutet, dass die Betroffenen immer nur »Shut up!« schreien, egal, wer sie anspricht, weil die Festplatte ihres Gehirns keinen Speicherplatz mehr hat. Leider hat es als Erstes meinen Mann getroffen, der mir »Guten Morgen« wünschen wollte. Der Shutdown setzte sich fort, als eine alte Bekannte anrief.

»Dein Geburtstag ist ja schon vier Wochen vorbei. Ich wollte nur mal fragen, wie es dir geht«, sagte sie mit aufreizender Freundlichkeit. Ich war sofort auf 180. Wer mir gratulieren will, soll das gefälligst rechtzeitig tun. Außerdem, wen interessiert schon mein Geburtstag, und warum ruft sie erst sechs Wochen nach dem 7. Oktober an? »Ich will nicht telefonieren, ist mir alles zu anstrengend«, zischte ich und legte auf.

Meine Entschuldigung per SMS wurde bisher nicht beantwortet. Vielleicht liegt das nicht am Krieg, sondern an mir? Darüber werde ich nachdenken, wenn die Hamas besiegt ist. Mal sehen, bei wem ich mich bis dahin noch alles entschuldigen muss.

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  05.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 6. November bis zum 13. November

 05.11.2025

Yitzhak Rabin

Erinnerung an einen Mord

Wie ich am 4. November 1995 im Café Moment in der Jerusalemer Azza Street vom tödlichen Anschlag auf Israels Ministerpräsident in Tel Aviv erfuhr

von Ayala Goldmann  04.11.2025

TV-Tipp

»Nürnberg 45 - Im Angesicht des Bösen«

Das Dokudrama rekonstruiert die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse vor 80 Jahren

von Jan Lehr  04.11.2025

Hollywood

Jesse Eisenberg will eine seiner Nieren spenden

Der Schauspieler hatte die Idee dazu bereits vor zehn Jahren

 03.11.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Herbstkaffee – und auf einmal ist alles so »ejn baʼaja«

von Nicole Dreyfus  02.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Zahl der Woche

8 jüdische Gemeinden

Fun Facts und Wissenswertes

 02.11.2025

Aufgegabelt

Wareniki mit Beeren

Rezepte und Leckeres

 02.11.2025