Finale

Der Rest der Welt

»›An allem sind die Juden schuld.‹ ›Und die Radfahrer.‹ ›Warum die Radfahrer?‹ ›Warum die Juden?‹« Der alte Witz fiel mir neulich ein. Foto: Getty Images/iStockphoto

»›An allem sind die Juden schuld.‹ ›Und die Radfahrer.‹ ›Warum die Radfahrer?‹ ›Warum die Juden?‹« Der alte Witz ist mir neulich eingefallen, als ich in Berlin mit dem Fahrrad unterwegs war. Zugegebenermaßen nicht auf der Straße, aber auf einem sogar für Wilmersdorfer Verhältnisse sehr breiten und fast menschenleeren Gehweg.

Dort lauerte an diesem verhängnisvollen Montagmorgen ein einzelner missmutiger Fußgänger. Ende 60, eine Mischung aus Blockwart und Wilmersdorfer Witwer. »Verschwinde! Hier ist kein Radweg!«, brüllte der Mann und trat gegen meine Fahrradkette. Das Schutzblech splitterte, ein Stück brach ab. Ich musste anhalten. Der militante Fußgänger stellte sich mir in den Weg und machte kein Hehl aus seinem Triumph. Er rief zufrieden: »Heute ist ein guter Tag für mich!«

beleidigung Ich habe gar nichts dazu gesagt. Erst später ist mir eingefallen, dass ich in Berlin ständig als Radfahrerin beleidigt werde, aber nicht als Jüdin – jedenfalls nicht auf offener Straße. Ob es daran liegt, dass ich mich als Radfahrerin wie eine »Palästinenserin des Straßenverkehrs« (politisch nicht korrektes Zitat meines Vor-Vorgängers in der Kulturredaktion) verhalte, als Fußgängerin dagegen unglaublich zahm und dialogbereit?

Neulich bin ich bei einer Party mitfühlend gefragt worden, wie es mir denn so geht – als Jüdin in Deutschland. Wahrscheinlich hat der Partygast gerade an ein Hotel in Leipzig gedacht. »Schon in Ordnung«, habe ich gesagt und an den Wilmersdorfer Witwer gedacht. »Manchmal trifft man Idioten. Kann man überall treffen. Ich glaube nicht, dass es in anderen Ländern besser ist.«

Vielleicht gebe ich solche Antworten nur, weil ich meine Ruhe will. Oder weil ich am Wochenende nicht auf Facebook bin – jeden Freitag lösche ich diese App von meinem Handy. Anschließend habe ich das Gefühl, dass die Welt ohne Social Media eigentlich ganz in Ordnung sein könnte. Wenn einen nur nicht alle immerzu daran erinnern würden, wie gefährlich es ist, als Jude in Deutschland zu leben … Hand aufs Herz, natürlich bin auch ich schon antisemitisch beleidigt worden, und manchmal habe ich mich zu spät gewehrt. Aber wo ist die perfekte Welt, in der es keine Beleidigungen gibt?

selbsthilfegruppe Jetzt könnte ich eine Selbsthilfegruppe für diskriminierte jüdische Radfahrerinnen gründen und mich in einem »Safe Space« mit anderen Betroffenen über intersektionale Opfererfahrung austauschen. Wegen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung bräuchte ich nach dem Vorfall auf dem Gehweg zudem eine mehrwöchige Krankschreibung. Die würde ich nutzen, um ein Video zu drehen: beruhend auf der These, dass der Wilmersdorfer Witwer es auf etwas Größeres abgesehen hatte, nämlich auf meine Bernsteinkette – und nur, weil er keine sah, gegen die Fahrradkette trat ...

Liebe Mitjüdinnen und Mitjuden! Nein, ich will den Antisemitismus nicht kleinreden! Aber haben wir nicht den Pharao überlebt? Und sind wir alle zusammen nicht viel stärker als das Bild, das manche von uns zeichnen?

Zahl der Woche

1437

Funfacts & Wissenswertes

 18.12.2025

Revision

Melanie Müller wehrt sich gegen Urteil zu Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was bisher bekannt ist

 18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025

Los Angeles

Rob und Michele Reiner: Todesursache steht fest

Ihre multiplen Verletzungen seien durch Gewalteinwirkung entstanden, so die Gerichtsmedizin

 18.12.2025

Bad Arolsen

Floriane Azoulay scheidet als Direktorin der Arolsen Archives aus

Die Amtszeit der Direktorin der Arolsen Archives endet im Dezember. Unter Floriane Azoulay sammelte das Archiv Auszeichnungen, sie selbst war alles andere als unumstritten

 18.12.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. Dezember bis zum 31. Dezember

 18.12.2025

Interview

»Die Zeit der Exzesse ist vorbei«

In ihrem neuen Buch »Glamour« setzt sich die Berliner Autorin Ute Cohen mit Schönheit und Eleganz auseinander. Dabei spielt auch Magie eine Rolle - und der Mut, sich selbst in einer »Zwischenwelt« inszenieren zu wollen

von Stefan Meetschen  17.12.2025 Aktualisiert

Potsdam

Kontroverse um Anne-Frank-Bild mit Kufiya

Ein Porträt von Anne Frank mit Palästinensertuch in einem Potsdamer Museum entfacht Streit. Während Kritiker darin antisemitische Tendenzen sehen, verteidigt das Museum das Bild. Die Hintergründe

von Monika Wendel  17.12.2025

Meinung

Der Missbrauch von Anne Frank und die Liebe zu toten Juden

In einem Potsdamer Museum stellt der Maler Costantino Ciervo das jüdische Mädchen mit einer Kufiya dar. So wird aus einem Schoa-Opfer eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels

von Daniel Neumann  17.12.2025