Finale

Der Rest der Welt

Kurzschluss im Januar oder Wozu hat man Nachbarn?

von Shira Silberstein  07.01.2021 08:25 Uhr

Januar ... Foto: Getty Images/iStockphoto

Kurzschluss im Januar oder Wozu hat man Nachbarn?

von Shira Silberstein  07.01.2021 08:25 Uhr

Hochspannung, Lebensgefahr», steht auf der Tür neben meinem Fahrradkeller. Auf dem Boden ist eine Wasserlache, und aus einem Rohr in der Decke tropft es immer stärker auf mich und mein Fahrrad. Ich rolle mit den Augen und hoffe, dass der Hausmeister sich darum kümmern wird. Aber: Es ist Freitag, also wird das wohl noch dauern. Warum nur haben wir uns eine Wohnung in diesem abgeranzten Mietshaus mitten im heruntergekommenen jüdischen Viertel gekauft?

Einige Stunden später: Die Kinder springen in ihren Pyjamas auf dem Sofa herum, ich schiebe das Abendessen in den Ofen. Auf einmal riecht es irgendwie verbrannt. Sirenen beginnen zu heulen. Es klingelt an der Tür.

Chaos Im Treppenhaus, umwölkt von stinkenden Rauchschwaden, stehen Feuerwehrmänner in neonfarbenen Anzügen und brüllen irgendetwas Unverständliches auf Flämisch. Chaos! Kreischende Kinder springen die Treppe herunter, meine charedischen Nachbarinnen – allesamt im Frottee-Hauskleid und passenden Turban auf dem Kopf – drängeln sich auf dem Weg nach unten, gefolgt von dem immer noch auf Flämisch brüllenden Feuerwehrzug.

Vor der Haustür empfängt uns mit Blaulicht beleuchtete Action: Drei Feuerwehrautos fahren vor, die Straße wird mit neongelbem Plastikband abgesperrt, und wir werden an den Straßenrand gescheucht.
Da stehen wir nun: zähneklappernd in unseren Pyjamas und Jogginganzügen. Es nieselt.

Die Nachbarn strömen von links und rechts herbei, um nur keine Sekunde zu versäumen. Herr Scheinowitz, der Vorsitzende des Hauskomitees, stets korrekt im schwarzen Seidenkaftan mit Troddelgürtel, berichtet von der Feuerursache – Kurzschluss im Elektrizitätsraum – und versucht, uns zu beruhigen. Seine Frau verteilt Sandwiches.

Jiddisch Aus den angrenzenden Stiebels kommen mehr und mehr Kumpel von Scheinowitz. «Scheinowitz! Scheinowitz!», sagen sie, klopfen ihm auf die Schulter, rufen aufmunternde Worte auf Jiddisch. Fehlt nur noch, dass sie ihn auf den Schultern davontragen. Die Augen von Herrn Scheinowitz glänzen. Ich glaube, er hat sich seit seiner Barmizwa nicht mehr so gefreut.

Von irgendwoher besorgt er die Schlüssel vom Waschsalon gegenüber, und nun drängeln sich alle Nachbarn in dem warmen, angenehm duftenden Raum. Die Scheinowitz-Kinder bringen Thermoskannen mit heißem Kaffee. Fast bedauere ich, dass wir nach einer knappen Stunde wieder ins Haus dürfen. Es ist eiskalt und dunkel, kein heißes Wasser zum Teekochen, kein Internet oder Fernsehen. Unsere Handys sind fast leer. Verzweifelt schickt mein Mann eine letzte WhatsApp an einen Typen im Nachbarhaus, der in seinem Minjan betet.

Schabbat Kurze Zeit später klopft es an der Tür. Der Nachbar, mit Kopfscheinwerfer und Stiefeln, hat sich die sechs düsteren Stockwerke hochgequält und uns ein paar Power Charger mitgebracht, außerdem eine Einladung zum Schabbat-Mittagessen. Und ich bin wieder einmal versöhnt mit meinem abgeranzten Mietshaus im heruntergekommenen jüdischen Viertel mit seinen netten Nachbarn.

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert