Kolumne

Der Rest der Welt

Wir sind schon ein heiliges Volk! Ich gehe jeden Tag in einen großen Secondhand-Laden. Möbel, Bücher, Büstenhalter – hier kann ich alles für wenige Franken kaufen. Als Jude falle ich dort ein bisschen auf. Die meisten Männer – vorwiegend aus der Türkei und dem Balkan – kennen mich einfach als »den Juden«.

Um zehn Uhr öffnet das Geschäft. Etwa 50 Männer stehen jeden Wochentag vor dem breiten Tor und rauchen Kette. Wenn sie nicht rauchen, reden sie über Frauen und Autos. Glaube ich zumindest, ich verstehe kein Türkisch. Wenn ich den Laden betrete, verstummen sie. Es ist aber nicht so, dass ich aufgespießt werde. Interessanterweise geschieht das Gegenteil. Die Stammkunden nicken mir zu. »Hallo, Jude«, werde ich höflich begrüßt. »Gut geschlafen?« Erfreut nicke ich immer zurück.

Artischockensaft Vor zwei Monaten ist ein dicker Zwischenhändler zu mir gekommen. Er war gerade bei einem jüdischen Arzt. »Guter Jude!« Der Doktor hätte ihm gesagt, dass er abnehmen muss, sonst werde er bald sterben. Ich schaute ihn ungläubig an. Das sagt man doch nicht einfach so, dachte ich. Unsicher musterte ich ihn. Dafür, dass er bald sterben würde, schien er guter Dinge zu sein.

Wir quatschten noch ein wenig über Beschneidungen, da zog er eine kleine lila Flasche hervor, öffnete den Verschluss und trank auf mein Wohl. Es war ein Artischockensaft. Der seltsame Judenarzt hatte ihm das verschrieben. Wenn er nun jeden Tag Artischockensaft trinkt, kriegt er keinen Appetit mehr, frisst kein ganzes Hühnchen mehr – und lebt länger. Ich wünschte ihm viel Glück und war glücklich, dass gerade das Tor geöffnet wurde. Der Artischockensaft roch ziemlich.

zwischenhändler Warum ich Ihnen das alles erzähle? Am Donnerstag habe ich den Zwischenhändler wieder getroffen. Neun Kilogramm hat er an Gewicht verloren! In nur zwei Monaten! Ich starrte ihn an. »Guter Jude«, lobte er wieder seinen Arzt und schwärmte von den Artischocken. Ich musterte ihn nochmals. Dort, wo früher der Bauch nicht mehr aufhören wollte, lachte nun ein zufriedenes Bäuchlein in die noch warme Novembersonne. »Guter Jude«, flüsterte ich nur noch. So viel abnehmen will ich auch.

Bereitwillig ließ mich der Zwischenhändler an seinem Saft nuckeln. Es schmeckte scheußlich. »Jetzt wirst du den ganzen Tag nichts mehr essen wollen«, versprach mir der Kerl. Er hatte recht, mir war speiübel. Erst am nächsten Morgen klopfte der heimtückische Hunger wieder an. Ich muss noch mehr Artischockensaft saufen, beschloss ich. Und so bestellte ich 100 Stück. Bei 100 Exemplaren erhält man nämlich eine Gratis-DVD (über Artischocken). Viel Gewicht habe ich interessanterweise noch nicht verloren, aber ich habe auch erst begonnen. Ich setze aber mein ganzes Vertrauen in diesen Judenarzt. Wir sind schon ein kluges Volk!

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024