Finale

Der Rest der Welt

Gerade in der Sommerferienzeit werden es viele Eltern nicht mehr hören können: »Mir ist laaaaangweilig!« Und was raten ihnen Erziehungsratgeber? Die Langeweile zulassen. Sie sei schließlich die wichtigste Triebfeder der kindlichen Entwicklung. Mit 19, dachte ich, läge die Phase der schrecklichen, zähen, trägen Langeweile hinter mir.

Im vergangenen Jahr wurde ich dennoch zur unfreiwilligen Expertin. Denn die Israelis machten mir, nachdem ich mich entschieden hatte, nach dem Abitur nach Deutschland zu gehen, ein sehr großzügiges Abschiedsgeschenk: Mein Abiturzeugnis würde ich nämlich erst in einem Jahr bekommen. Der perfekte Anlass für einen Selbstversuch namens Langeweile.

Hotel Mama Erst fand ich die Vorstellung, nach dem ganzen Abiturstress einfach mal nichts zu tun, total super. Wieder bei Mama einziehen, den ganzen Tag im Bett liegen, Serien gucken, gute deutsche Schokolade essen und ab und zu Freunde treffen. Ich würde das schon hinkriegen, sagte ich mir, schließlich hatte ich doch in Israel viel gelernt, etwa, wie man sich in Warteschlangen geschickt vordrängelt, wie man eine Stunde zu spät kommt, ohne sich zu schämen, und – ganz wichtig – Gelassenheit.

Motiviert wagte ich das Experiment. Doch schnell wurde mir von der vielen Schokolade übel, und ich machte mir Sorgen über eine mögliche Diabetes. Mein Rücken tat weh, ich hatte eine Beule auf der Stirn, da mir mein Laptop während des Binge-Watching auf den Kopf gefallen war, und alle Staffeln House of Cards waren durch. Meine Freunde hatten nie Zeit – sie mussten schließlich arbeiten, studieren und waren – wie rücksichtslos – mit ihrem stressigen Leben beschäftigt. Selbst die Beziehung zu meiner Mutter war in ernsthafter Gefahr: Sie konnte einfach nicht verstehen, dass ich trotz meiner akuten Langeweile all ihre Beschäftigungsideen (Fensterputzen, Staubsaugen, den Keller endlich mal entrümpeln, Rasenmähen etc.) ablehnte.

Zuflucht suchte ich bei meinen Großeltern. Doch selbst die wussten mich nicht länger zu beschäftigen. Mir wurde klar, dass meine Oma einen erfüllteren Alltag hatte als ich: Bingo, Gedächtnistraining, Vorträge, Massagen, Arzttermine. Bei manchem durfte ich zwar dabei sein, aber spätestens beim Bingo hatte ihre Großmutterliebe ein Ende.

Erstsemestler Nach fast einem Jahr geht mein Selbstexperiment, dank des lang erwarteten Zeugnisses aus Israel und dem ersehnten Studienplatz, zu Ende. Meine Sorge, ich könnte nach einem Jahr Nichtstun meinen Altersgenossen hinterherhinken, ist verflogen. Die meisten wechseln nämlich gerade noch einmal ihren Studienort, ihren Studienplatz oder gleich beides. Offenbar gibt es das Berufsbild, wofür man einen Bachelor in Philosophie und Ethnologie braucht, nicht mehr.

Ich jedenfalls habe gelernt, dass man an Langeweile wächst und zusätzlich noch einen Haufen »Arte«-Dokus guckt, sich als Batik-Künstlerin probiert, endlich mal mit Yoga anfängt, und vielleicht sogar herausfindet, was man wirklich in seinem Leben machen möchte. Also: Lasst die blöden »Welches Studienfach passt zu mir«-Fragebögen. Wagt das »Experiment Langeweile«!

7. Oktober

»Den Frauen eine Stimme geben«

Liron Kroll und Elad Baadany über sexualisierte Gewalt und die Kampagne »MeToo – UnlessURAJew«

von Katrin Richter  07.12.2023

Musik

Und das nicht nur zur Chanukkazeit

»Rappers & Rabbis« verbinden Hip-Hop und jüdische Tradition

von Jessica Donath  07.12.2023

Film

Fast perfektes Imitat

Mit seinem Bernstein-Biopic »Maestro« bringt sich Bradley Cooper für die Award Season in Stellung

von Jens Balkenborg  07.12.2023

Meinung

»Schöne Feiertage!«: Mit inklusivem Wunsch auf der sicheren Seite

Es ist gut, alle Religionen miteinzubeziehen, wenn wir uns nicht sicher sind

von Imanuel Marcus  07.12.2023

Chanukka

Ach wenn doch nur …

Auf welche Wunder unsere Autorin in diesem Jahr am Lichterfest wartet. Eine Wunschliste

von Adriana Altaras  07.12.2023

»Maestro«

Ein Mensch mit kreativer Energie, Egozentrik und Selbstzweifeln

Bradley Coopers Biopic über Leonard Bernstein interessiert sich weniger für dessen musikalisches Schaffen als für seine widersprüchliche Persönlichkeit

von Thomas Abeltshauser  06.12.2023

Literatur

Vom Sieg über den bösen Leierkastenmann

Hans Krásas Kinderoper »Brundibár« wurde 1943 in Theresienstadt uraufgeführt. Der Stoff funktioniert auch als Bilderbuch

von Hadassah Stichnothe  06.12.2023

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  06.12.2023

Trauer

»Eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen«

Ein persönlicher Nachruf auf den Historiker Jan Plamper, der am 30. November in Berlin verstorben ist

von Dmitrij Belkin  05.12.2023